Dokument-Nr. 13804

Kessler, Josef Alois: Joseph Aloysius, durch Gottes und des hl. Apostolischen Stuhles Gnade Bischof von Tiraspol entbietet den Gläubigen der Diözese Gruß und Segen.. Saratow, 20. März 1918

Es gab nach dem Zeugnis der Wissenschaft feuerspeiende Berge, die so lange ihre feuerig-flüssigen Massen auswarfen, bis sie, gänzlich erschöpft, innen hohl, in sich zusammenfielen. Einem solchen feuerspeienden Berge kann man unser Vaterland vergleichen. Es hat während des letzten Krieges so lange aus seinem Innern unzählige Menschenmassen, Lebensmittel und Reichtümer an die Kriegsfronten geworfen, bis alle arbeitenden Kräfte und aller Vorrat an Existenzmittel erschöpft, gleichsam im Innern hohl, es zusammenstürzen mußte. Darum fehlt es heute an Brot, an Ware, an Kleidung, an Vieh, an Futter, an Heizmaterial, an allem. Indessen, wäre das nur der einzige Mangel, man könnte sich noch mit der Hoffnung trösten, einige guten Ernten [sic] werden die Schäden ausbessern, dem Lande wieder zum Gedeihen und Wohlstand verhelfen. Aber es fehlen noch größere Güter. Vor allem fehlt der Frieden im Innern des Reichs, ohne den kein Glück, kein Gedeihen denkbar ist. Es fehlt eine einheitliche, christliche Regierung, es fehlt den Volksmassen der Sinn und das Gefühl für Recht und Gerechtigkeit, ja nicht wenigen an Menschlichkeit. Darum fehlt es an der staatlichen und bürgerlichen Ordnung; an Stelle der Gerechtigkeit herrscht überall Verwegenheit und rohe Gewalt. Unser Land ist heute eher ein großer Kriegsschauplatz, als ein geordneter und rechtlicher Staat. Der Eine ist der rohesten Willkür des Andern, des Verwegeneren, des körperlich Stärkeren preisgegeben. Das Verderben und die Anarchie haben jenen Grad erreicht, wo niemand mehr vor Ueberfall, Raub und Mord sogar am hellen Tag, auf volksbelebten Straßen sicher ist. Ja, nicht einmal die Wände des Hauses bieten dem Bewohner Sicherheit: wir gehen des Abends mit der Befürchtung schlafen, ob nicht Mörderhand uns des Nachts den Lebensfaden abschneiden wird.
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Der Krieg nach außen hat dem Krieg der Bürger unter einander Platz gemacht. Wie wird dies oder vielmehr, wann werden diese Greuel endigen? Angesichts dieser schrecklichen Lage müssen wir mit dem Propheten klagen: "Keine Treue, keine Barmherzigkeit, keine Erkenntnis Gottes ist mehr im Lande, Fluchen, Lügen, Morden, Stehlen, Ehebrechen hat überhand genommen und eine Blutschuld reicht an die andere. Darum wird trauern das Land, hinschmachten die Völker." 1) Und wie zur Zeit eines großen Sturmes auf dem Weltmeer die großen Seeungeheuer aus der Tiefe an die Oberfläche kommen, um hier eine Beute zu erhaschen, so scheinen während des tobenden Sturmes unserer Staatsumwälzung die größten Ungeheuer des finstern Abgrunds auf die Erde heraufgestiegen zu sein, die in der Gestalt vertierter Menschen über die unglücklichen Bewohner der Städte ihre Schreckensherrschaft ausüben. "Und ich sah ein Tier," sagt der Liebesjünger Jesu " Und ich sah ein Tier aus dem Meere aufsteigen." 2) Diesem Tier muß man den Sozialismus vergleichen, der die ganze staatliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung zu zerstören droht. Ja nicht einmal vor dem Heiligtum, vor Gott und seiner Religion macht er halt. Die moralische Ordnung vor allem will er zerstören. "Und es tat seinen Mund auf zur Lästerung gegen Gott, zu lästern seinen Namen, und seine Hütte und die Bewohner des Himmels." 3)
Aber nicht nur in unseren Städten, nein auch in unseren früher so stillen Dörfern scheint der Geist des Abgrundes sich nicht weniger Gemüter bemächtigt zu haben. Von allen Seiten der weit zerstreuten Diözese gehen mir Nachrichten zu, daß die Armen und Reichen, das Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe mißachtend, mit tödlichem Haß einander gegenüber stehen; daß, ungeachtet meiner Warnung vom 14. Juni vorigen Jahres, manche Dörfer oder doch beträchtliche Teile derselben sozialistische Abgeordneten [sic] in die konstituierende Reichsversammlung gewählt haben. Zwar versicherte man mich, man habe so gewählt, weil man teils betrogen, teils weil die sozialistische Parteien [sic] baldigen Friedensschluß versprochen hätten, daß unser katholisches Volk im Gegenteil die Grundsätze und Irrlehre des Sozialismus mißbillige und verwerfe. Indessen, da die Armen allenthalben Ansprüche auf das Land der Reicheren erheben, legen sie den Beweis dafür ab, daß die Grundsätze des So-
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zialismus in nicht wenige aus unserm Volke eingedrungen sind und dieselben beherrschen.
Ich erfülle darum eine Amtspflicht, wenn ich heute meine Stimme zum Schutze des Rechts und der Gerechtigkeit, sowie des Privatbesitzes erhebe und vor den verderblichen Grundsätzen des widerchristlichen Sozialismus warne.
Nachdem Gott die ersten Menschen erschaffen hatte, schenkte er ihnen die Erde zur Nutznießung. "Daß aber," sagt Leo XIII. der große um die menschliche Gesellschaft so hochverdiente Papst, "Daß aber Gott der Herr die Erde dem ganzen Menschengeschlecht zur Nutznießung übergeben hat, dies steht nicht dem Sonderbesitz entgegen." 1) Daß der Mensch Grund und Boden als Privateigentum besitzen darf, werde ich später beweisen, vorerst werde ich nachweisen, daß der Mensch überhaupt Privateigentum besitzen kann.
Was der Mensch zu seinem Unterhalt bedarf, muß er der Erde abringen. Die der Erde abgerungene Frucht, die zugleich die Frucht seines Fleißes und seiner Arbeit wie auch der Erde ist, muß sein dauerndes Eigentum sein. Dieses verlangt dringend die Natur selber, weil er ja selber und nicht ein anderer Herr seines Fleißes und seiner Arbeit ist. Ist der Boden Eigentum oder im rechtlichen Besitz eines anderen, so muß wenigstens ein wesentlicher Teil seiner Arbeit als Eigentum zuerkannt werden. Könnte der Arbeiter sich nicht die Früchte seiner Arbeit zu eigen machen, dann könnte ein anderer sie ihm streitig machen. In diesem Fall aber wäre niemand sicher, ob er nicht morgen das verlieren würde, was er heute der Erde abgerungen. Diese Unsicherheit müßte das Leben unmöglich machen, den Krieg aller gegen alle zur Folge haben und jede Ordnung zerstören. Gott und die Natur aber verlangen die gesellschaftliche und moralische Ordnung. Darum verlangen Gott und die Natur auch den bleibenden oder dauernden Privatbesitz. Wer demnach die Behauptung aufstellen wollte, der Mensch dürfe kein Privateigentum besitzen, wie der unchristliche Sozialismus, der müßte zuerst beweisen, daß der Mensch nicht der Herr seines Fleißes und seiner Arbeit, seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten sei und, daß er somit auf die Früchte seiner Arbeit kein Recht habe. Diesen Beweis wird der Sozialismus für immer schuldig bleiben.
Wenn dem Menschen schon als Einzelwesen das Recht, Privateigentum zu besitzen, zukommt, dann muß ihm dieses Recht um
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so mehr zugesprochen werden, wenn er Haupt einer Familie ist. Die Natur verlangt vom Haupt der Familie, daß er sie erhalte, nicht bloß für den Augenblick, sondern auch für die Zukunft versorge und vor Elend schütze. Diese Pflicht kann der Vater einer Familie nur dann erfüllen, wenn er seinen Kindern ein dauerndes Eigentum hinterlassen kann. Wie aber könnte er ihnen dieses hinterlassen, wenn er kein Eigentum besitzen dürfte?
Auch die verschiedenen Berufsarten, die teils von Gott selber, teils von der Natur, teils von der menschlichen Gesellschaft eingeführt wurden, verlangen dringend den Privatbesitz. Denn ohne Privatbesitz könnte keine Berufsklasse die Pflichten ihres Standes erfolgreich erfüllen, weil jeder vor allem durch körperliche Arbeit, wie die Sozialisten wollen, sich seinen täglichen Unterhalt beschaffen müßte. Denken wir uns einen Lehrer, der keinen Privatbesitz in unserm Falle kein Gehalt besitzen dürfte. Er wäre darauf angewiesen, seinen täglichen Unterhalt durch körperliche Arbeit, wie die Sozialisten wollen, zu suchen. Die nach der körperlichen Arbeit übrige Zeit brauchte er zur Wiederherstellung seiner Kräfte, zur Ruhe und Erholung. Wann wollte er die Kinder unterrichten oder die Jugend lehren. Im günstigsten Falle könnte er kaum eine oder die andere Stunde im Monat für den Unterricht finden. Welche Fortschritte würden die Schüler in einer solchen Schule machen? Nicht viel bessere als gar keine. Auch der Lehrer müßte die höheren und wichtigeren Kenntnisse bald vergessen, er müßte geistig und wissenschaftlich verkümmern; er könnte auch darum in der Wissenschaft nichts mehr Nennenswertes leisten. Von einem Fortschritt in der Wissenschaft als solcher könnte keine Rede mehr sein. Oder würde der Arzt, der nach dem Programm der Sozialisten auch sein Brot durch körperliche Arbeit sich verschaffen müßte, nicht bald seine Arzneikunde vergessen? Aus Mangel an Zeit und Lust würde man ihn sehr selten am Bette eines Kranken erblicken. Und das wäre jedenfalls auch besser, denn weil er keine Zeit hätte, seine Kenntnisse aufrecht zu erhalten und in seinem Beruf zu leben, müßte er bald ein Pfuscher werden und den Kranken eher schaden als nützen. Und könnte euer Seelsorger, der vor allem um sein irdisches Fortkommen besorgt sein müßte, weil er kein Eigentum haben könnte, somit auch kein Gehalt beziehen dürfte, jederzeit an das Bett der Sterbenden eilen, um ihnen die Tröstung unserer hl. Religion zu bringen? Wann wollte er eure Kinder taufen, wann eure Toten beerdigen, wann eure Beichten hören, eure Jugend unterrichten, wann würde er Zeit zur Predigt, zum Gottesdienst, zum Besuch der Schule, zum Unterricht der
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Jugend, zur Verrichtung seiner anderen Berufspflichten finden? Gewiß höchst selten, denn er darf ja nach der Lehre der Sozialisten keinen Besitz, kein Gehalt haben, um sich sein Brot, seine Kleidung zu verschaffen. So machen schon die verschiedenen Stände, die zum Wohl der menschlichen Gesellschaft eingeführt sind, das Privateigentum zur unbedingten Notwendigkeit und zum dringenden Bedürfnis derselben. Wenn, wie wir oben gesehen haben, der Mensch durch seinen Fleiß und seine Arbeit Privateigentum überhaupt erwerben und besitzen kann, dann läßt sich kein Grund angeben, warum er durch seine Arbeit nicht auch Grund und Boden erwerben und besitzen könne. Der Sozialismus will, daß Grund und Boden ausschließliches Eigentum des Staates sei. Wie überall, so bleibt er auch hier den Beweis für seine Behauptung schuldig. Auch der Privatbesitz von Grund und Boden ist eine dringende Forderung der Natur. Das Wohl der menschlichen Gesellschaft und des Staates verlangt ihn nicht weniger. Darum findet man ihn auch überall, wo gesittete Menschen leben, eingeführt; dort aber, wo Gemeinbesitz des Landes besteht, hemmt er den Wohlstand, schadet dem Fleiß, der Selbständigkeit, ja der guten Sitte. Dieses zu beweisen wäre nicht schwer, allein dies würde mich zu weit vom meinem vorgesteckten Ziel wegführen. Meine Beweise sollen ja die Notwendigkeit des Privatbesitzes feststellen. Der Privatbesitz von Grund und Boden also wurde von den Menschen noch bevor sie Staaten bildeten eingeführt. Auf den ersten Blättern der hl. Schrift lesen wir, daß die Söhne Adams Eigentum besaßen; es war Privateigentum, es bestand in Schafherden und Feldfrüchten. "Abel," heißt es dort, "war ein Schafhirt, Kain ein Ackersmann." 1) Jenes Land, das Kain und seine Söhne urbar machten, erhielt durch ihre Arbeit eine andere Form; es wurde aus wüster, öder Erde in fruchtbringendes Ackerland umgewandelt. Wer möchte behaupten die Nachkommen Adams hätten den Boden, den sie bebauten und pflegten, nicht zu ihrem Eigentum gemacht? Dasselbe gilt auch von den Ländereien, welche vor hundert Jahren und darüber, die russische Regierung unsern Voreltern angewiesen hat. Da die verschiedenen Familien die ihnen zugemessenen Landstücke aus wüstem, öden und unfruchtbarem Boden in fruchtbringendes Ackerland umwandelten, gaben sie diesem eine Gestalt, eine Form, die von ihm nicht mehr getrennt werden kann. Durch den Fleiß und die Arbeit, die jene Familien in das Land hineinlegten, wurden sie so recht die Besitzer dieses Lan-
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des. Darum hat niemand ein Recht, die Besitzer dieses Eigentumsrechtes zu berauben, weder die Gemeinden noch der Staat. Aus dem Gesagten geht hervor, daß die erste und älteste Art des Landbesitzes der Menschen und unserer Voreltern in Rußland der Privatbesitz war. Mit welchem Recht will nun der Sozialismus behaupten, der private Länderbesitz sei gegen die Gerechtigkeit, der Staat allein soll das Land besitzen und es nur den Familien zur Nutznießung überlassen? Wenn Privatpersonen unser Kolonistenland nicht besitzen können, wie will denn dann die Gemeinde oder der Staat dasselbe besitzen? Die Gemeinden und der Staat bestehen ja nur aus Privatpersonen. Wenn diese also Grund und Boden nicht besitzen können, dann kann auch der Staat ihn nicht besitzen und die einzelnen Gemeinden erst recht nicht. Daraus folgt, daß man entweder den Privatbesitz zugeben muß, oder man muß jeden Landbesitz überhaupt als eine Ungerechtigkeit erklären, was doch niemanden [sic] einfallen wird.
Das von der russischen Regierung unsern Voreltern zugemessene Land war, wie aus der Geschichte unserer Kolonien hervorgeht, zuerst Privatbesitz oder Eigentum der einzelnen Familien, da jeder Familie 30-40 Dessjätinen1) zugemessen wurden. Unter dem Drucke der Beamten und der hiedurch geschaffenen Mißstände gingen anfangs vorigen Jahrhunderts unsere Wolgakolonisten erst zum Gemeinbesitz über.2) Dadurch hörte der Sonderbesitz des Landes auf, das Eigentumsrecht ging an die Gemeinden über. Eine hundertjährige traurige Erfahrung bewies allen, die guten Willen hatten und ihren Verstand gebrauchen wollten, wie schädlich in jeder Hinsicht der gemeinsame Landbesitz unseren norddeutschen Kolonisten gewesen ist. Darum kehrten die Gemeinden bald nach der Erscheinung des Stolypinschen Landgesetzes wieder zum Sonderbesitz zurück. Mit dieser Rückkehr der ganzen Gemeinde oder auch nur eines Gliedes derselben hat die Gemeinde das Eigentumsrecht und darum auch das Recht über das Land der Privatbesitzer verloren, und sie kann daher ohne Zustimmung aller ihrer Glieder nicht mehr zum Gemeinbesitz zurückkehren. Keine Gemeinde kann nach den Grundsätzen des Rechtes und der Gerechtigkeit das Land des Sonderbesitzers gegen den freien Willen derselben an sich ziehen und mit dem anderen Gemeindeland unter die Wirte verteilen. Tut sie es dennoch, dann vergreift sie sich an fremdem Eigentum und macht sich einer schweren Ungerechtigkeit gegen den Sonderbesitzer schuldig. Sie reißt nämlich frem-
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des Eigentum an sich, drückt den rechtlichen Besitzer und Herrn des Landes zum bloßen Nutznießer herab und maßt sich dessen Eigentum an. Ja der frühere Sonderbesitzer erhält nicht einmal die Nutznießung seines ganzen Eigentums, weil bei jeder Verteilung des Landes auf die männlichen Gemeindeglieder (oder Seelen wie man sagt) sein Landanteil kleiner wird, da die Zahl der männlichen Gemeindeglieder mit jedem Jahr zunimmt. Wer sich auf diese Weise am Eigentum des Nächsten vergreift, sündigt gegen das Naturrecht, weil der private Ackerbesitz ein Ausfluß des Naturrechtes ist. Aber auch das geoffenbarte göttliche Recht verlangt, daß das Eigentum des Menschen unantastbar sei, ja es verbietet strenge sogar das Verlangen darnach. "Du sollst nicht stehlen." "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Acker, Knecht, Ochs, Esel noch alles was sein ist." 1)
Liebe Diözesanen! Wie kommt es, daß nicht wenige aus euch, die doch der katholischen Religion so treu ergeben waren, jetzt sich so leichtfertig über die soeben erwähnten göttlichen Gebote hinwegsetzen? Wußten sie denn nicht, daß diese Gebote, die das Eigentum des Privatmannes wie der übrigen Besitzer schützen, zu den Grundpfeilern jeder Religion gehören? Welches sind die Ursachen, daß nicht wenige unsers Volkes, die doch das siebente und zehnte Gebot Gottes noch hochschätzen, diese Gebote in der Landfrage so sehr mißachten? Nach meiner Ueberzeugung gibt es dafür folgende Ursachen. Erstens leben wir hier in einem Lande, mitten unter einem Volke, das viele Jahrhunderte lang unter der Leibeigenschaft gelebt hat und dem daher wenig Sinn für Recht und Gerechtigkeit anerzogen wurde. Dazu kommt, daß die russische Kirche, die sich so früh von der wahren Kirche Christi getrennt hat, jeden erziehenden und wohltätigen Einfluß auf die Herzen ihrer Bekenner verloren hat. Die russische Umgebung, das in vielen Hinsichten ungerechte russische Staatsgesetz konnten unmöglich ohne verderblichen Einfluß auf unsere deutschen Kolonisten bleiben. Zweitens die große Not der Massenbevölkerung auf der einen und die große Habsucht und das große Vermögen auf der anderen Seite; die Härte und Unbarmherzigkeit der Reicheren erfüllte die Armen mit Haß und Neid gegen diese. Der Neid aber und die Mißgunst können das Gefühl für Recht und Gerechtigkeit nicht aufkommen lassen. Drittens kommt zu all diesem der Sozialismus mit seinen falschen und ver-
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derblichen Grundsätzen über Religion und Privatbesitz. Er sagt den Armen, jeder Privatbesitz sei ungerecht, der Staat allein habe das Recht, Eigentum zu besitzen. Er verspricht den ungebildeten Massen ein wahres irdisches Paradies. Die ungebildeten Menschen sind zu unentwickelt, diese trügerischen Verheißungen zu durchschauen; dann der Hochmut und die Ungelehrigkeit des einfachen Volkes. Es will dem Priester nur das glauben, was nur zum Gottesdienst und zur Sakramentenspendung gehört nicht aber, was mit der Lehre unserer hl. Religion in Widerspruch steht oder mit ihr zusammenhängt. Darum hört man nicht selten manche aus unserm Volk sagen: "der Pater soll sich nur um seinen Altar kümmern". Darum werden nicht wenige von Agitatoren und Betrügern so leicht betört und getäuscht. Weil endlich unsere Gemeinden an der Wolga ein ganzes Jahrhundert hindurch das Land in Besitz hatten, können sich viele bis heute nicht daran gewöhnen, daß das Land durch den Uebergang auf Sonderbesitz aufgehört hat Gemeindeeigentum und angefangen hat Sonderbesitz oder Privateigentum zu sein. Nicht wenige verkauften zwar ihr knappes Landstück, lebten aber immer der geheimen Ueberzeugung, der Kauf werde vom Gesetz nicht als giltig [sic] anerkannt oder doch rückgängig gemacht. Sie wollten demnach andere d. h. die Käufer betrügen, betrogen sich aber selber. Um jeden Preis möchten sie nun zu ihrem früheren Land, oder wenn auch nur zur Nutznießung desselben gelangen. Darum stimmten alle diese für die Rückkehr zum Gemeindebesitz, während sie doch kein Stimmrecht in dieser Sache haben konnten.
Jedermann sieht auf den ersten Blick, wie ungerecht die Wege sind, auf welchen man wieder zur Nutznießung seines verkauften Landes kommen will. Manche wollen den Kauf rückgängig machen, da sie zu billig verkauft hätten. Daß man das so teure Land, die einzige Quelle der Ernährung, geradezu in vielen Fällen verschleuderte, hat seine Richtigkeit. Allein nichtsdestoweniger war damals der Kauf gerecht. Nach der Lehre der Gerechtigkeit und des Rechts ist jener Kaufpreis ein gerechter, der durch den allgemeinen Verkehr oder die Sitte in einer Gegend festgestellt wurde. Als man das Land veräußerte, schätzte man in den Wolgakolonien das Land eben so gering ein. Der Preis war ein niedriger aber darum nicht ein ungerechter. Man hätte das Land damals eben höher schätzen sollen. Wenn man endlich die vielen Mißernten in hiesigen Gegenden, den geringen Ertrag des Landes berechnet und dann den Landpreis
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mit dem Preis des Landes z. B im Süden vergleicht, wo eine Mißernte eine seltene Ausnahme und das Land demnach viel ergiebiger ist, dann kann man diesen Preis, mit dem Landpreis im Süden vergleichen, nicht zu gering schätzen. Die Giltigkeit [sic] des Kaufes kann aus angeführten Gründen nicht in Zweifel gezogen werden. Unsere Gemeinden haben also kein Recht, die Einzelbesitzer ihres Landbesitzes zu berauben . Ja nicht einmal der Staat darf den Privatbesitzer seines Besitzes für verlustig erklären. Verlangen sehr dringende Gründe z. B. das allgemeine Wohl des Reichs eine Entziehung des Eigentumsrechtes, so muß dem Eigentümer der zugefügte Schaden vollständig ersetzt werden. Das ist eine Forderung der strengen Gerechtigkeit. Gemeinde und Staat müssen das Eigentumsrecht des Privatmannes ebenso respektieren und heilig halten wie der Privatmann, da Gott ebenso der Herr und Gebieter des Staates und der Gemeinde wie des Privatmannes ist. Er wird alle für begangenes Unrecht richten. Darum heißt es in der Schrift: "Gott richtet den Erdkreis mit Billigkeit und die Völker mit Gerechtigkeit." 1) Geliebte Diözesanen, betrüget euch doch nicht selber. Wenn ihr dafür stimmet, daß die Gemeinde dem Sonderbesitzer das Land wegnehme, so begeht ihr eine schwere Sünde gegen den Nächsten. Ihr beraubet ihn seines Eigentums, erschwert seine Wirtschaft, drückt ihn zum Nutznießer herab und entzieht bei jeder neuen Landverteilung einen Teil seiner Nutznießung, weil ja sein Anteil mit jedem Jahr kleiner wird. Endlich wollt ihr euch durch die Ungerechtigkeit, die ihr gegen euren Nächsten begehet, bereichern. Allein, ihr werdet das gerade Gegenteil erreichen. Denn der Weise sagt: "Es gibt keine Weisheit, keine Klugheit und kein Rat wider den Herrn:" 2) Aber auch gesetzt den Fall, ihr werdet durch Ungerechtigkeit reich, so schadet ihr doch eurer unsterblichen Seele. Den Seelenschaden aber kann kein Glück, kein Reichtum der Erde ersetzen: "Denn was nützte es den Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne, an seiner Seele aber Schaden litte." 3) Nur 10 Gebote hat Gott gegeben und dennoch sind unter diesen wenigen Geboten schon deren zwei, die den Privatbesitz des Nächsten schützen. Vergreifet euch daher nicht an seinem Gut, denn Gott steht auf seiner Seite; er schützt es. Oder fürchtet ihr wohl einen solchen Schutzherrn nicht? Suchet euer Fortkommen nicht auf ungerechten Wegen, ihr werdet es dort
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nicht finden, ihr werdet aber dort Unglück und Elend finden. Höret, der Weise sagt es selber: "Die Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde (d. h. die Ungerechtigkeit) macht elend die Völker." 1) Gott, der gerechte Gott läßt nicht zu, daß jemand durch Ungerechtigkeit dauernd glücklich werde. Das hat das christliche Volk schon hundertmal erfahren. Davon ist es tief überzeugt und es hat seine Ueberzeugung in die schönen Sprichwörter eingekleidet: "An dem Ungerechten Erwerbe freut sich nicht der dritte Erbe." "Ungerecht Gut tut nicht gut." "Ein ungerechter Heller verzehrt neunundneunzig gerechte." Das ungerechte Gut will Gott dem Ungerechten aus den Eingeweiden herausreißen. Davon versichert er uns durch den Mund des gerechten Job: "Die Reichtümer, die der Ungerechte verschlungen, wird er ausspeien und aus seinem Bauche wird Gott sie herausziehen." 2) Dazu fehlt es Gott ebenso wenig an Macht wie am Willen, besonders wenn er so schreckliche Worte spricht wie diese: "Und aus seinem Bauche wird er sie herausziehen." Er braucht dem Ungerechten nur großes Unglück ins Haus schicken oder ihm seinen Segen entziehen. Wegen der Sünde Adams hat Gott die Erde verflucht: Mit schwerer Arbeit sollte er sich von ihr nähren, sie sollte ihm Dornen und Disteln tragen. Ist dieser Fluch nicht ganz besonders an unseren Wolgadeutschen in Erfüllung gegangen? Denn welches Volk hatte schon so viele Mißernten wie wir, wo quält sich der Bauer mehr als hier, wo ist ein fleißiges Volk ärmer als wir? Wer ist häufiger heimgesucht mit Seuchen an Menschen und Vieh als wir, wer ist unglücklicher als wir? Woher all das Unglück, Jammer und Not? Gewiß hat es seine natürlichen Ursachen, aber sind nicht oft die Ungerechtigkeiten, deren wir uns schuldig machten, schuld daran? Gott, der Herz und Nieren durchforschende Gott, sieht, wie unsere Deutschen in Rußland so viel Sinn und Gefühl für die Gerechtigkeit aus eigener Schuld verloren haben, und er straft sie dafür.
Indessen, liebe Diözesanen, wollet mich nicht so verstehen als ob ich hier bloß den Armen ihre Schuld vorhalten wolle, um sie zur Umkehr und Besserung zu bewegen. Auch bei nicht wenigen unserer Reichen steht es nicht besser. Zwar gibt es unter diesen wie unter unseren Armen solche, die in diesem habsüchtigen Lande, nicht von dieser allgemeinen Seuche angesteckt, in dem Armen
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ihren Bruder sehen und ihm nach Kräften helfen. Allein, gibt es auch nicht solche Reiche, die jedes Jahr das Pachtgeld für das Land, daß der Arme bearbeitet, um sein Leben zu fristen, erhöhen? Wenn der Unglückliche auch unter der Last des Pachtzinses zusammenbricht, was geht das sie an. Der Arme, sagt mancher, braucht es ja nicht pachten, wenn es ihm zu teuer ist. Dies soll eine Entschuldigung sein? Aber vor Gott wird der Reiche mit diesem harten Wort nicht durchkommen. Bedenket doch, die ihr so handelt, daß Gott der Vater der Armen ist; er sagt in der hl. Schrift, "daß er ihre Stimme höre," 1 ) daß er ihr Geschrei nicht vergesse." 2) Kein Wunder, denn die Unterdrückung der Armen ist eine Sünde, die so boshaft ist, daß sie zum Himmel um Rache schreit. Sie wird auch nicht vergebens darum schreien, weil der Herr die Unterdrückung der Armen zu rächen verspricht: "Ich weiß", sagt der Psalmist, "Ich weiß, daß der Herr dem Dürftigen Recht sch afft und Rache dem Armen." 3) Oder saget selber, ist es gerecht, ist es nicht ein großes Unrecht, wenn man den Armen zwingt, dieselben Gemeindelasten zu tragen wie die Reichen oder Wohlhabenden, jenen Armen, dessen Kinder um Brot schreien, daß er ihnen nicht immer geben kann. Im alten Bunde verbot Gott den Esel neben den Ochsen zu spannen, weil er viel schwächer ist als der Ochse: "Du sollst nicht pflügen mit einem Ochsen und Esel zusammen." 4) Wird derselbe Gott, der sich sogar eines schwachen unvernünftigen Tieres annimmt, es wohl so ganz gleichgiltig [sic] ansehen, wenn man den Armen mit dem Reichen, dem Wohlhabenden an denselben Gemeindewagen spannt, damit er mit diesen die gleichen Lasten ziehe? Gestehen wir es vor Gott, daß wir nicht selten unseren armen Bruder zu hart gehalten haben, daß wir zu wenig Mitleid mit seinem Elend und seiner Not hatten. Das Ausreden, das Entschuldigen, das Leugnen hilft nichts; es kann unsere Schuld nur noch vermehren. Es darf dann niemanden wundernehmen, wenn der Arme, der bei den christlichen Wohlhabenden und Reichen so wenig Teilnahme und Hilfe, so wenig Barmherzigkeit und Gerechtigkeit findet, sich dem allgemeinen Feind, dem unchristlichen Sozialismus in die Arme wirft, um mit Hilfe desselben das ihm zugefügte Unrecht zurückzuweisen und wenn auch auf ungerechte Weise seine Notlage zu verbessern? Denn "Unrecht erzeugt Unrecht," sagt ein deutsches Sprichwort, und ein Sprichwort ist ein wahres Wort.
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Nach dem Gesagten können wir nicht länger darüber im Unklaren bleiben, warum unser armes Volk, das doch stets so viel christlichen Sinn an den Tag gelegt hat, sich heute dem größten Feinde des Christentums und der gesellschaftlichen Ordnung in die Arme wirft. Meine lieben Brüder, behandeln wir doch in Zukunft unsere Armen wie unsere Brüder, bringen wir ihnen stets ein Herz voll christlicher Nächstenliebe und tätiger Barmherzigkeit entgegen, überschreiten wir niemals die Grenzen des Rechtes und der Gerechtigkeit, seien wir barmherzig gegen jedermann: denn "Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen." 1)
Wie ganz anders steht es doch mit dem Sinn und dem Gefühl für Recht und Gerechtigkeit bei unseren Stammbrüdern in Deutschland. Als ich im Jahre 1908 in Kissingen zur Kur war, konnte ich mich so oft von der Gerechtigkeitsliebe der Deutschen überzeugen. Der Kürze halber bringe ich nur ein Beispiel, das ebenso schön als rührend ist. Vor meiner Wohnung spielten auf der Straße des Städtchens Kinder von 5-8 Jahren. Am Saume des Straßenpflasters standen junge Obstbäume, die mit Aepfeln und Birnen beladen waren; es war eine Lust die schönen, bereits reifen Früchte anzusehen. Zuweilen fiel ein Apfel, eine Birne von einem Baume in nächster Nähe der munteren kleinen Schar. Was werden sie tun, sie werden doch bald ihre Händchen nach dem Obst ausstrecken? Allein, was sah ich? Auch nicht ein einziges Kind rührte das Obst an. Unwillkürlich verglich ich diese Kinder mit den unsrigen zu Hause in Rußland. Wann werden unsere Kinder so ehrlich, wann werden sie das siebente und zehnte Gebot so respektieren wie diese Kinderchen, fragte ich mich? Ich mußte mir diese Antwort geben: Wenn wir in Rußland bleiben werden, niemals. Welchen christlichen Gerechtigkeitssinn müssen doch die Eltern haben, die ihn ihren Kindern so früh anerzogen haben. Ich zweifle nicht im geringsten, daß wir auch denselben Sinn für Recht und Gerechtigkeit hätten, wenn unsere Voreltern in Deutschland geblieben wären. Mit Recht können daher die Deutschen singen: "Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt". Aber hier in Rußland haben unsere Deutschen viel, sehr viel von den hohen Gütern der deutschen Nation, von deutscher Ehrlichkeit, deutscher Treue, von deutschem christlichen Sinn und Gefühl für Recht und Gerechtigkeit verloren.
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Weil das russische Volk und leider auch wir Deutschen, hier zu Lande in ungerechter Luft lebend, um mich so auszudrücken, zu wenig von dieser erhabenen Tugend der Gerechtigkeit eingeatmet haben, darum strecken nicht wenige ihre Hände nach fremdem Gut aus, und möchten mit den Reichen und Wohlhabenden so teilen, daß den Reichen nichts mehr übrig bliebe als der Bettelstab. Doch dem lieben Gott sei es gedankt, daß unsere Deutschen in diesem unglücklichen Lande, inmitten dieses Meeres von Unrecht und Ungerechtigkeit, dennoch so viel christliches deutsches Gefühl, soviel Menschlichkeit aus dem Schiffbruch des russischen Staates gerettet haben, daß sie nicht gleich so vielen Russen morden, rauben oder andere Greueltaten verüben. Bei den unglücklichen Russenbauern droht indessen der Sozialismus mit dem letzten Rest dieses edlen Gefühles aufzuräumen. Rußland ist ein ganz besonders ergiebiger Boden für diese böse, ungläubige Saat. Eine Regierung, die Jahrhunderte lang ihre fremdstämmigen Völker bedrückte, die Gewissen knechtete, das Heiligste zu ihren Staatszwecken entehrte, mußte allen Geistesverirrungen den Boden trefflich vorbereiten. Darin wurde sie stets unterstützt von einer Kirche, die mehr Magd des Staates als Leiterin der Seelen gewesen, deren Geistlichkeit in überwiegender Mehrzahl, hauptsächlich um das Wohl ihrer Familie besorgt, die Leitung der Seelen als kleines Nebengeschäft betrieb; es fehlt dieser Kirche eben an der göttlichen Sendung, weil sie schon lange von der einen wahren Kirche Christi abgeirrt ist. Darum fehlt ihr auch der wohltätige Einfluß auf die Gemüter des Volkes. Dieser unchristliche Geist des russischen Volkes konnte nicht ohne verderbliche Rückwirkung auf unser Volk bleiben. Darum gibt es auch leider unter uns heute nicht wenige, die mit dem Sozialismus liebäugeln und dieser Irrlehre sogar das Wort führen. Sie erwarten von ihr materiellen Vorteil. Möchten doch diese bedenken, daß ein Christ, ein Katholik kein Sozialdemokrat sein kann. Denn der Sozialismus ist ein Feind Gottes und ein Widersacher Jesu Christi. Was Luzifer einst im Himmel gewesen, das ist der Sozialismus heute auf Erden. Jener suchte Gott im Himmel zu stürzen, dieser will Gott und seinen Sohn Jesus Christus aus der menschlichen Gesellschaft hinauswerfen. Ja ein Häuptling der Sozialisten in Paris, Rigault hieß der Unglückliche, wünschte 24 Stunden Polizeipräfekt von Paris zu sein, damit er den Befehl geben könnte, Gott zu verhaften, und wenn sich Gott nicht stellen wolle, würde er ihn in
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effigie d. h. in seinem Bilde hinrichten lassen.1) So weit geht die Wut und Raserei der Sozialisten gegen den lieben Gott, daß sie an Wahnsinn grenzt, wie bei diesem französischen Lästerer. Hütet euch darum, meine lieben Diözesanen, vor den Aposteln dieser Irrlehre. Ihr dürfet sie nicht einmal anhören, ihr müsset alle Gemeinschaft mit ihnen aufgeben und meiden. Nicht ich sage dies allein, sondern der Liebesjünger Jesu gebietet es in seinem zweiten Brief im 2. Joh.: "Wenn jemand, sagt er, zu euch kommt und diese Lehre nicht mitbringt, so nehmet ihn nicht ins Haus auf, und grüßet ihn auch nicht". 2) Um das Volk zu betrügen geben diese Verbreiter des Sozialismus vor, daß sie ihm ja die Religion nicht nehmen. In Wirklichkeit aber tut der Sozialismus alles, um Religion und Kirche aus der Welt zu schaffen. Gott will, daß die Christen mit Hilfe des Zeitlichen das Ewige suchen und erreichen sollen. Um das letzte Ziel d. h. die ewige Seligkeit zu erlangen, müssen die Christen ihre hl. Religion ausüben oder betätigen. Dazu aber brauchen wir Priester, die uns die Religion lehren, sie lebendig in uns erhalten und uns die göttlichen Gnaden vermitteln. Wir brauchen Lehranstalten, in denen die Priester herangezogen und gebildet werden, wir bedürfen der Gotteshäuser, wir brauchen Wohnungen, für unsere Priester, für deren Gehilfen, die Organisten, die Küster, die Religionslehrer. Wir brauchen für alle geistlichen Amtspersonen Unterhalt. Die Kirchen brauchen hl. Gewänder, Geräte und andere zum Gottesdienst notwendige Gegenstände. Endlich brauchen wir Bischöfe mit ihren Zentralverwaltungen der Diözesen. Dazu sind aber nicht geringe Hilfsmittel erforderlich. Nach den Bestimmungen der Sozialdemokratie dürfen aber religiöse oder kirchliche Einrichtungen und Gesellschaften keinerlei Hilfsmittel besitzen, weil sie keine juridische Person sind, und die Kirche die Rechte einer juridischen Person nicht haben darf; wir sind daher nach dem Willen des Sozialismus recht- und besitzlos, oder was dasselbe ist – bürgerlich tot. Alle Gotteshäuser, alles bewegliche und unbewegliche Eigentum der Kirchen und der Kirchengemeinschaften gehören nicht dieser, d. h. der Kirche, sondern dem Staat. Niemand hat ein Besitzrecht, nicht einmal die bürgerlichen Gesellschaften oder Einrichtungen, die Privatperson, oder die Kirche; alles besitzt der Staat. Der Staat ist Herr von allem, der Staat ist Gott, der Staat ist alles, alles andere ist nichts anderes als seine willenlose Sklaven [sic] und Arbeitsknechte. Er lenkt
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alles, ordnet alles, leitet alles, beherrscht alles, der Staat ist nach der Lehre des Sozialismus alles in allem, der Allgott. Gefällt es diesem, uns heute aus unseren Kirchen zu weisen, werden wir morgen keinen Gottesdienst haben. Und darauf müssen wir uns gefaßt machen. Wenn der Sozialismus auf Erden siegen wird, dann wird das Opfer unserer Altäre schwinden und statt dessen wird im Tempel des Neuen Bundes "Greuel der Verwüstung herrschen." Dann aber werden auch die Worte des Liebesjünger Jesu in Erfüllung gehen: "Kindlein", sagte er, "es ist die letzte Stunde, und wie ihr gehört habet, wird der Widerchrist kommen." 1) Die Welt kann ohne das immerwährende Opfer des Sohnes Gottes nicht bestehen. Darum, Du Menschensohn! s o spricht der Herr, der Gott des Landes Israel: Das Ende kommt, es kommt das Ende. 2) Aber vor dem Ende werden wir uns wie in den ersten Zeiten der Christenverfolgung unter die Erde, in die Katakomben verkriechen müssen, um Gott anzubeten, um Gott das Opfer seines Sohnes zu entrichten. Bereits ist ein Dekret erschienen, das den Geistlichen vorschreibt, von einer gewissen Gesellschaft die Erlaubnis einzuholen, wenn sie Gottesdienst halten wollen. Allen Geistlichen, darunter die bischöflichen Kurien, die bisher ihr Gehalt vom Kirchengut, das schon unsere frühere zarische Regierung an sich gerissen hatte, erhielten, wird das Einkommen entzogen. Ebenso wird das Gehalt unsres Konsistoriums gesperrt und unser Seminar jeder Unterstützung beraubt. Man nimmt den Hirten der Kirche alle Existenzmittel, um sie aushungern zu lassen und scheut sich dann nicht zu behaupten, man wolle ja doch dem Volk nicht die Religion nehmen. Wer den Hirten schlägt, will die Herde zerstreuen: „Ich will den Hirten schlagen, und die Schafe der Herde werden zerstreut werden." 3) Der Sozialismus erkennt überhaupt keine Religion an; er ist religionslos. Er zieht die Ehe vor seinen Tribunal, er erkennt die kirchliche Trauung nicht als gesetzlich und giltig [sic] an. Die Brautleute sollen darum vor dem weltlichen Beamten die Ehe schließen. Der sozialistische Staat maßt sich ebenso das Recht an, die Ehen zu trennen, während doch nach der Lehre unseres hl. Glaubens die Ehe ein Sakrament und unauflöslich ist. Ist das nicht ein Eingriff in unsere hl. Religion und eine große Schädigung derselben? Goldene kirchliche Gefäße, Kelche, Patenen, Monstranzen, die Kreuze, die über 16 Solotnik wiegen, sollen eingezogen und verschmolzen werden. Glücklicherweise sind unsere Gottes-
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häuser so arm, daß auch nicht ein einziges ein goldenes Gefäß besitzt. Indessen auch die silbernen, die kupfernen Gefäße kann man uns wegnehmen, ohne das Recht zu haben, gegen einen solchen Gottesraub Beschwerde einzulegen. In hochherziger Weise sollen uns die zum Gottesdienst notwendigen Gegenstände leiheweise überlassen werden! Wie jedermann sieht, ist unsere Religion, unser Heiligtum recht- und schutzlos und der Willkür eines jeden ausgeliefert, unsere religiöse Freiheit ist die der ersten Christen, an welchen sich die Weissagung des Herrn erfüllte: "Alsdann werden sie euch der Trübsal überliefern, und euch töten und alle Völker werden euch hassen um meines Namens willen:" 2) Ein so rücksichtsloses Vorgehen gegen alles Religiöse und Kirchliche will natürlich mit Glauben und Kirche gründlich aufräumen. Aber auch mit den menschlichen Rechten und der menschenwürdigen Freiheit will der Sozialismus aufräumen. Der Sozialismus predigt Gleichheit, aber nicht des Besitzes, sondern der Sklaverei. Niemand soll etwas besitzen, außer dem Staat. Alle Staatsbürger sollen körperlich arbeiten, arbeiten und immer wieder arbeiten. Alle müssen Arbeiter sein; es darf im Sozialistenreich nur einen Stand geben – den Stand der knechtlichen Arbeiter. Nach dem Maß ihrer Arbeit sollen alle vom Staat gekleidet und ernährt werden. Das heißt aber die Menschen zu willenlosen Leibeigenen und Sklaven oder Arbeitsknechte des Staates machen. Der Sozialistenstaat ist allein der Herr oder vielmehr alle die Millionen Aufseher und Fronvögte (die natürlich alle Juden sein werden) sind die Herren, die Tyrannen über alle willenlose Staatsbürger, besser gesagt, Sklaven. Dafür werden sie ja auch gekleidet und gefüttert! Wer seinen Verstand gebrauchen kann, wird einsehen, daß der Sozialismus alle Menschen mit Ausnahme der Aufseher und Vorgesetzten zur Stufe der unvernünftigen Haustiere herunterdrücken will. Und weil es im Sozialistenstaat keine Religion geben darf, so wird auch jedes Gewissen daraus verschwinden. Wo eben jede Religion fehlt, dort wird man vergeblich nach dem Gewissen suchen. Wo aber kein Gewissen ist, dort werden die Menschen ärger als reißende Tiere. Wie aber die reißende Tiere behandelt werden müssen, das werden die klugen sozialistischen Lenker des Staates schon wissen. Daß der sozialistische Staat eine Gesellschaft von religionslosen Menschen, die religionslosen Menschen aber gewissenlose und blutdürstige Tiere sind, sehen wir jetzt schon an dem Raub
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und den Räuberbanden, vor welchen schon heute niemand mehr sicher ist. Und wir stehen erst am Anfange des sozialistischen Staates. Möge uns der liebe gütige Gott vor einem solchen Staat bewahren! Denn er ist "das Land des Jammers und der Finsternis, wo keine Ordnung, sondern ewiger Schrecken wohnt." 1)
Das ist der Staat des Sozialismus, ein kleines Vorspiel der Hölle. Wer sollte es für möglich halten, daß manche unserer Gemeinden so töricht sind, daß sie sogar die Apostel, die den Sozialismus predigen, anhören, mit ihnen verhandeln, und an deren Grundsätzen über den Raub des Privatvermögens Gefallen finden. Höret daher, geliebte Diözesanen, auf die Mahnung des hl. Johannes: "Wenn jemand," sagt er, "zu euch kommt und diese Lehre nicht mitbringt, so nehmet ihn nicht ins Haus auf und grüßet ihn auch nicht." 2)
Ihr habet nun, geliebte Diözesanen, gehört, daß Gott den Menschen so geschaffen hat, daß er von Natur Privatbesitz, Grund und Boden nicht ausgenommen, haben muß. Privateigentum ist demnach eine Forderung der menschlichen Natur, ja auch des Willens Gottes. Darum hat Gott auch Gebote zum Schutze des Privatbesitzes gegeben und will, daß sie von allen heilig gehalten werden sollen. Wer sie aber nicht halten will, wird kein dauerndes Glück hienieden haben, sicher aber wird Gott, der die Gerechtigkeit selber ist, die Verletzung fremden Eigentums in der Ewigkeit rächen. Ihr, denen Gott wenig Güter geschenkt hat, ihr Armen strecket eure Hände nicht nach fremden Gut aus, begnüget euch mit dem, was Gott euch gegeben hat. Wenn ihr gerecht seid, ist Gott auf eurer Seite, es wird euch nicht am Notwendigsten fehlen, "Denn euer Vater weiß, daß ihr alles dessen bedürfet." "Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit; so wird euch dieses alles zugegeben werden." 3) Ihr werdet euch davon überzeugen, wie wahr es ist, was der Psalmist erfahren: "Ich bin jung gewesen" sagt er, "und alt geworden; aber den Gerechten habe ich nicht verlassen gesehen, und sein en Samen nicht nach Brod gehen." 4) Tröstet euch mit der Armut und beherziget, daß Gott sie euch geschickt hat, um sie in ewigen Reichtum einst umzuwandeln. Auch sein Sohn Jesus Christus war so arm, dass
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er sagen konnte: " Die Füchse haben Höhlen, die Vögel des Himmels Nester, der Sohn des Menschen hat nicht, wo er sein Haupt hinlege".5) Aber auch ihr Reichen, zwinget nicht euren armen Bruder, um seine schwere Lage zu verbessern, sich dem Sozialismus in die Arme zu werfen, helfet ihm selber, aber so, daß ihm wirklich geholfen ist, denn der Sozialismus ist der größte Feind der Reichen und der Armen zugleich. Er ist auch der größte Feind Gottes und der Religion seines Sohnes Jesu Christi, die er zerstören will. Zwar kann er der Religion und deren Trägerin, der hl. katholischen Kirche, nicht geringen Schaden zufügen, aber zerstören kann er sie nicht, weil die Kirche die Verheißung ihres göttlichen Gründers hat: "Die Pforte der Hölle werden sie nicht überwältigen." 1) Jesu Verheißung aber kann nicht trügen, weil sie Wahrheit ist. Darum wird eher alles zu grunde gehen, als das Versprechen Christi zu schande werden, wie der Herr es selber gesagt hat: "Himmel und Erde werden vergehen, aber mei ne Worte werden nicht vergehen." 2) Hänget euer Herz nicht an die vergänglichen Güter der Erde: "Nichts ist," sagte der Weise, "größeres Unrecht als Geld lieb haben; denn wer solches tut, hat selbst seine Seele feil." 3) "Wollet nicht hoffen auf Unrecht, und wollet nicht gelüsten nach Raub, und wenn Reichtum zuströmt, hänget das Herz nicht daran". 4) Wenn ihr aber eurem Bruder wirksam helfet, werdet ihr höchstens scheinbar ärmer, denn schon der Weise sagt: "Wer dem Armen gibt, dem wird nichts mangeln, wer von einem Bittenden wegsieht , der wird Mangel leiden." 5) Ja der göttliche Erlöser verspricht den Barmherzigen barmherzig zu sein und sie selig zu machen: "Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit e rlangen." 6) Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi sei mit euch allen, Amen.
+ Joseph Al. Keßler.

Saratow, den 20 März 1918, an welchem Datum dieses Hirtenschreiben herausgehen solle, der Drucker jedoch in Saratow weigerte sich es zu drucken, weil er für seine Druckerei fürchtete.

[pag. 2] 1) Osee. 4,1. 2. 3. 2) Off. 13,1. 3) Off. 13,6.
[pag. 3] 1) Rerum novarum Leonis XIII.
[pag. 6] [zwei hds. von unbekannter Hand eingefügte unlesbare Fußnoten, vermutlich vom Verfasser]
[pag. 7] 1) 5. Mosis, 5,16.
[pag.9] 1) Ps. 9,9. 2) Sprw. 21,30. 3) Mat. 16, 26.
[pag. 10] 1) Sprw. 14,34. 2) Job. 20, 15.
[pag. 11] 1) Job. 24,28. 2) Ps. 9,13. 3) Ps. 139,13. 4) Deut. 22,10.
[pag. 12] 1) Mat. 5,7.
[pag. 14] 1) Scherr, Das rote Quartal, 48. 2) 2. Joh. 10.
[pag. 15]1) 1. Joh. 2,18 2) Ezech. 7, 2. 3) Mat. 26, 31.
[pag. 16] 1) Mat. 26, 31. 2) Mat. 24, 9.
[pag. 17] 1) Job. 10,22. 2) Joh. 10. 3) Mat. 6, 23. 4) Ps. 36, 25. 5) Mat. 8,20.
[pag. 18] 1) Math. 16,18 2) Mar. 13,31. 3) Sir. 10,10. 4) Ps. 61,11. 5) Sprw. 28,27. 6) Mat. 5.7.
1Diese vorliegende achtzehnseitige Broschüre wurde vom S. RR. SS. nur auf der ersten Seite foliiert. Zur übersichtlicheren Benutzung wird die Seitenzählung der Broschüre übernommen.
Empfohlene Zitierweise
Kessler, Josef Alois, Joseph Aloysius, durch Gottes und des hl.Apostolischen Stuhles Gnade Bischof von Tiraspol entbietet den Gläubigen der Diözese Gruß und Segen., Saratow vom 20. März 1918, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 13804, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/13804. Letzter Zugriff am: 03.05.2024.
Online seit 23.07.2014.