Dokument-Nr. 15134
Krestinskij, Nikolaj Nikolajewitsch an Pacelli, Eugenio
Berlin, 10. Dezember 1924

Eure Eminenz,
Das geehrte Schreiben Eurer Eminenz vom 3. Dezember d. J. - Nr. 31662 - habe ich dem Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten in Moskau übermittelt und werde nicht verfehlen, die Antwort sofort nach Eingang Eurer Eminenz zu übermitteln.
Anlässlich der an mich gerichteten Bitte Eurer Eminenz, die Angelegenheit bei meiner Regierung zu unterstützen, sei es mir gestattet, folgendes darzulegen.
In dem genannten Schreiben ist ein Namensverzeichnis von 42 Personen angeführt, welche sich nach Informationen des Heiligen Stuhles in der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken in Haft befinden. Die Vor- und Familiennamen dieser Personen lassen den Schluß zu, daß es sich durchweg um Staatsangehörige der Union und in der Mehrzahl griechisch-katholischen Glaubens handelt.
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Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob in der Tat die verzeichneten Personen zurzeit verhaftet sind. Sollten die dem Heiligen Stuhl zugegangenen Berichte den Tatsachen entsprechen und die namhaft gemachten 42 Personen sich wirklich im Gefängnis befinden, so darf ich wohl mit Bestimmtheit annehmen, daß sie auf Grund der Gesetze der Union als Verurteilte wegen strafrechtlicher oder politischer Verbrechen, beziehungsweise unter Anklage stehend wegen solcher Delikte, in Haft genommen wurden.
Ich würde in der Lage gewesen sein, bei meiner Regierung die Revision des einen oder anderen Falles zu befürworten, wenn ich vom Heiligen Stuhl genaue Angaben darüber erhalten hätte, daß der betreffende Verurteilte das Opfer eines Justizirrtums geworden ist sowie entlastendes Beweismaterial, welches den Gerichts- und Verwaltungsbehörden nicht zur Verfügung gestanden hat. Obwohl auch in solchem Falle die Vorstellungen des Heiligen Stuhles nicht anders als ein Versuch fremder Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Union gewertet werden müssen, würde ich es dennoch verantworten
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können, dem Ansuchen des Heiligen Stuhles, welches humanitären Rücksichten und dem Gerechtigkeitsgefühl entspringt, meine Befürwortung angedeihen zu lassen.
Ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, daß die Auffassung des Heiligen Stuhles von der voreingenommenen Mutmaßung ausgeht, daß die Verurteilten sich in Haft befinden ohne gesetzliche Gründe und die Möglichkeit ihrer Befreiung als eine Selbstverständlichkeit hinstellt. Ich muß deshalb schon jetzt der Befürchtung Ausdruck geben, daß meine Regierung in Anbetracht des angedeuteten Charakters der Vorstellungen es für unmöglich erachten wird, in eine sachliche Erörterung der Angelegenheit einzutreten.
Ich gestatte mir, Eurer Eminenz die Versicherung meiner ausgezeichnetsten Hochachtung zu erneuern.
N. Krestinskij
Empfohlene Zitierweise
Krestinskij, Nikolaj Nikolajewitsch an Pacelli, Eugenio vom 10. Dezember 1924, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 15134, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/15134. Letzter Zugriff am: 26.04.2024.
Online seit 18.09.2015.