Dokument-Nr. 6615

Faulhaber, Michael von: Hirtenbrief für die Erzdiözese München und Freising Fastenzeit 1920: Das Papsttum in unserer demokratischen Zeit. München, 24. Januar 1920

Michael,
durch Gottes Barmherzigkeit und des Apostolischen Thrones Gnade
Erzbischof von München und Freising,
entbietet dem ehrwürdigen Klerus und allen Gläubigen des
Erzbistums Gruss und Segen im Herrn.
Geliebte Erzdiözesanen! Vor wenigen Tagen bin ich von meiner Wallfahrt nach Rom zurückgekommen, wo ich dem Heiligen Vater über den religiös-kirchlichen Stand der Erzdiözese Bericht erstattet und zugleich in euerem Namen am Grabe der Apostelfürsten das Apostolische Glaubensbekenntnis gebetet habe. Fünf Jahre lang war es den deutschen Bischöfen unmöglich, den obersten Lehrer und Hirten der Kirche, den Nachfolger des Apostels Petrus, zu besuchen und zu sprechen. "Die Wege nach Sion trauerten" (Klagel. 1,4), wenigstens jene Wege, die von den mitteleuropäischen Kirchenprovinzen nach der Ewigen Stadt führten. Und doch muss es von allen Katholiken des Erdkreises wie ein Raub an der kirchlichen Freiheit empfunden werden, wenn die ungestörte briefliche und persönliche Verbindung der Bischöfe mit dem Statthalter Christi auf Erden durch politische Weltereignisse zerrissen werden kann. Darum bleibt es auch eine der grausamsten Lücken im Friedensschlusse, dass nicht einmal bei diesem Frieden die römische Frage gelöst wurde, obwohl sich gerade in diesem Kriege die unwürdige und unhaltbare Lage des Heiligen Vaters im Vatikangefängnisse in einem neuen grellen Lichte geoffenbart hat.
Im biblischen Altertum jubelte die Seele des Psalmisten, wenn die Tage der Wallfahrt nach Jerusalem nahten: "Ich freute mich, als man mir sagte: Wir wallen zum Hause des Herrn. Nun stehen unsere Füsse in deinen Vorhöfen, du Stadt des Friedens" (Ps. 121,1 f.). So jubelte unsere Seele, als die Absperrung vom Mittelpunkte der Christenheit langsam zu Ende ging und die Wege nach Rom wieder frei wurden. Dort in Rom stösst man auf die Ruinen heidnischer Tempel und
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Theater, auf die zerbrochenen Säulen heidnischer Marktplätze und Bäder, auf die Mauerreste vom Goldenen Hause des Nero und von den Palästen der römischen Kaiser – und die Steine dieser Ruinen aus dem heidnischen Altertum sagen uns: Was Gottes Hand zerstört hat, wird keine Menschenhand wieder aufbauen. Dort in Rom erheben sich mehr als 400 Kirchen, überragt von der Kuppel der Peterskirche über dem Grabe des Apostelfürsten – und die Steine dieser Kirchen sagen uns: Was Gottes Hand aufgebaut hat, wird keine Menschenhand zerstören. Dort in Rom pilgert man in die Katakomben und zu den Gräbern der Blutzeugen unseres Glaubens – und die Gräber dieser Glaubenshelden sagen uns: Euer Glaube ist gesalbt mit dem Blute der Martyrer. Dort in Rom steigt man in den mamertinischen Kerker hinab, wo die christlichen Bekenner in früher Morgenstunde die heiligen Geheimnisse feierten und für den letzten Gang in die Arena des Amphitheaters sich stärkten – und die Steine des Kerkers und Amphitheaters sagen uns: Weder Trübsal noch Bedrängnis, weder Gefahr noch Verfolgung, auch nicht das Schwert darf uns trennen von der Liebe Christi (Röm. 8,35). Dort in Rom geht man die Strassen, auf denen vom ersten Jahrhundert bis heute ungezählte Heilige, aber auch ungezählte Kirchenfeinde wandelten, die Strassen des alten Babylon (1 Petr. 5,13) und des neuen Jerusalem – und die Steine dieser Strassen sagen uns: "Der Herr kennt den Weg der Gerechten, doch der Wandel der Gottlosen mündet am Abgrund" (Ps. 1,6). Wir haben am Schlusse des letzten Jahres in München das dritte Jahrhunderttodesgedächtnis des hl. Laurentius von Brindisi gefeiert, der hier im Kapuzinerkloster lebte und predigte. Wie viel mehr erscheint uns die Stadt Rom durch die Erinnerung an die vielen Heiligen aus allen Jahrhunderten mit einer höheren Weihe umgeben! Dort in Rom stösst man in der Kirche des hl. Joachim auf eine Kapelle, wo die Patronin des Bayernlandes und die Patrone der bayerischen Bistümer dargestellt sind – und die Steine dieser Bayernkapelle sagen uns: Die bayerischen Katholiken verleugnen nicht die Art ihrer Väter und bauen auch in den Zeiten der tiefsten Erniedrigung ihren Glauben auf den Felsen Petri. Dort in Rom knien wir römisch-katholische Christen vor dem Grabe und Lehrstuhl und Thron des hl. Petrus, vor denen die Liebe und der Hass der Weltgeschichte zusammenmünden – und daneben auf dem Petersplatze erhebt sich die steinerne Säule mit der Aufschrift: "Christus ist Sieger, Christus ist König, Christus ist Herrscher"!
Meine lieben Diözesanen! Ich wollte, ihr hättet alle in der Audienz beim Heiligen Vater dabei sein und mit eigenen Ohren seine väterlichen Worte für unsere Gefangenen und ihre Familienangehörigen anhören können. Er habe alles versucht, sagte er, um die Tage der Trennung von den Familien abzukürzen und die Heimkehr der deutschen Gefangenen aus Frankreich und der österreichischen Gefangenen aus Sibirien wenigstens bis Weihnachten zu er-
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reichen. Wir sprachen lange von der wirtschaftlichen Not unseres Volkes: wie den Kindern die Unterernährung aus dem Gesichte zu lesen sei, wie der sittliche Niedergang des deutschen Volkes zum grossen Teil mit der Wohnungsnot und Armut und dem sonstigen wirtschaftlichen Elende zusammenhänge, wie also die Weltspende des Heiligen Vaters vom Tage der Unschuldigen Kinder und sein Hilferuf an die Amerikaner zugleich eine sittliche Tat für unser Volk bedeute. Wir sprachen von den Schulverhältnissen in Bayern, wo man trotz Brotnot und Kohlennot und Kleidernot und Arbeitsnot noch so viele Zeit übrig hat, um den Einfluss der Kirche auf dem Gebiete der Schule und Erziehung zu bekämpfen und die Seelen der Jugend der Unterernährung auszuliefern, wo aber auch mehr und mehr die katholischen Eltern erwachen und in den katholischen Elternvereinigungen ihre unverwüstlichen Rechte auf ihre Kinder geltend machen. Ein Staunen der Ehrfurcht erfasste mich, als ich sah, wie gut der Heilige Vater in diesen und anderen Fragen unsere Verhältnisse in Deutschland und in Bayern kannte. In der Offentlichkeit [sic] ist noch lange nicht alles bekannt, was der Heilige Vater getan hat, um die Leiden des Krieges und der Gefangenschaft zu lindern und den Völkerfrieden herbeizuführen. Wer unserem Volke vorreden und einreden will, der Heilige Vater stehe unserer Lage ohne Verständnis und ohne Teilnahme gegenüber, dem sage ich: Ananias, du hast gelogen (Apg. 5,3).
Geliebte Erzdiözesanen! Gerade in den letzten Jahren hat sich unser Angesicht oft nach Rom gewendet. Gerade auf dem dunklen Hintergrunde der letzten Jahre ist uns und auch Andersgläubigen über die weltgeschichtliche Grösse des Papsttums und über die gottgegebene Verfassung der Kirche ein neues Licht aufgegangen. Monarchische Staaten sind samt ihren militärischen Grundlagen zusammengebrochen, die Kirche hat ohne militärische Machtmittel als Hierarchie von Gottes Gnaden die Umwälzungen von 1900 Jahren überstanden und wird ihren monarchischen Grundcharakter bis zum Ende der Zeiten bewahren. Die päpstliche Tiara wird alle Königskronen und Kaiserkronen der Weltgeschichte überdauern. Wohl lassen sich Stimmen hören, die von Selbstregierung des souveränen Volkes sprechen und zur Kirche sagen: "Mutter, willst du nicht dem demokratischen Zuge der Zeit etwas mehr entgegenkommen und deine streng hierarchische Verfassung etwas mehr parlamentarisch gestalten? Willst du nicht neuen Wein in neue Schläuche giessen und das Volk mitregieren lassen?" Dann wird die Kirche antworten: "Kinder des 20. Jahrhunderts, ihr habt vom Taumelwein des demokratischen Gedankens getrunken, aber ihr kennt weder die Schrift noch die Kraft Gottes. Der Primat ist eine Einrichtung Gottes und darum über zeitgeschichtliche Wandlungen hinaus-
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gehoben. Was nicht von Fleisch und Blut geoffenbart ist, kann auch nicht von Fleisch und Blut umgemodelt oder gar abgeschafft werden. Hört, wie das Papsttum, die Unterscheidung zwischen einer lehrenden und hörenden Kirche, überhaupt der hierarchische Grundzug der Kirche verfassungsmässig auf dem Ewigkeitsboden des Evangeliums stehen! Reiche der Erde haben sich eine neue Verfassung gegeben und wechseln immer wieder ihre Staatsformen, das Reich Gottes hat den wesentlichsten Charakterzug seiner Verfassung, den Primat des Bischofs von Rom, seit den Tagen des Evangeliums bis heute erhalten".
Ein klares Heilandwort an Simon Petrus hat den Primat als Verfassung von Gottes Gnaden, nicht von Volkes Gnaden besiegelt. In einer feierlichen Stunde richtete der göttliche Lehrmeister bei Caesarea Philippi an seine Jünger die Frage: Für wen halten die Menschen den Menschensohn? Da antworteten die Apostel im Chore, indem sie einander in das Wort fielen: "Die einen halten ihn für Johannes den Täufer, andere für Elias, wieder andere für Jeremias oder sonst einen Propheten." Da stellte der Meister mit feierlicher Betonung die zweite Frage: "Für wen haltet Ihr mich", Ihr, die ihr [sic] meine Botschaft vom Reiche Gottes gehört, meine Wunder gesehen und meine Schule besucht habt? Auf diese zweite Frage antworteten nicht mehr die Apostel zusammen, jetzt antwortete Simon Petrus allein und sprach: "Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes". Und Jesus antwortete: "Selig bist du, Simon, Sohn des Jonas, denn nicht Fleisch und Blut hat dir das geoffenbart, sondern mein Vater, der im Himmel ist. Und ich sage dir: Du bist Petrus (Fels), und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen" (Matth. 16,13–18). Hier hat das Evangelium mit sonnenklaren Worten Petrus als den Grundstein bezeichnet, auf dem die Kirche Christi ruht wie ein Haus auf der Grundmauer. Viele andere Stellen der Heiligen Schrift sind dunkel und geheimnisvoll, an dieser Stelle aber sind die Worte klar wie das Licht der Sonne. Kein Bibelforscher, kein Adventist, kein Winkeladvokat der Geheimen Offenbarung kann dieses klare Wort des Evangeliums euch ausreden. Das Evangelium kennt keine andere als die auf Petrus gegründete Kirche. Wenn Christus überhaupt Wort gehalten und eine Kirche gegründet hat, hat er auch darin Wort gehalten, dass er seine Einheitskirche auf den Felsen Petri gründete. Und wie das Haus immer dort ist, wo die Grundmauer des Hauses ist, so ist auch die Kirche Christi dort, wo Petrus ist. Und wie die Kirche Christi auch nach dem Tode Petri weiterbestehen sollte bis zum Ende der Zeiten, so musste auch die Grundmauer der Kirche weiterbestehen in dem jeweiligen Nachfolger des ersten Petrus. Unser Glaube an das Papsttum steht also auf dem Boden des Evangeliums.
Heute stehen diese Worte in grossen goldenen Buchstaben in der Kuppel der Peterskirche in Rom: "Auf diesen Felsen will ich meine
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Kirche bauen". Christi Hand hat also den Grundstein der Kirche gelegt, nicht Menschenhand. Christi Geist hat den ganzen Bauplan ausgedacht, nicht Menschengeist. Christi Gnade hat die Kirche vor den Pforten der Hölle bewahrt, nicht Menschenkraft. Nicht die Herrschsucht und die Freude am Regieren haben den Primat von Rom geschaffen: die ersten Päpste wussten, der Martyrertod ist ihr sicherer Anteil. Nicht die geschichtliche Entwicklung hat den Primat von Rom geschaffen: er war schon vor der geschichtlichen Entwicklung als erster Baustein dem Reiche Gottes zugrunde gelegt. Nicht der Mehrheitswille einer Kirchengemeinde, nicht eine Volksabstimmung haben den Primat des heiligen Petrus geschaffen: bevor es überhaupt eine geschlossene Kirchengemeinde gab, hatte der Sohn des Jonas den neuen Namen Kepha d. h. Fels erhalten (Joh. 1,42). Aus der Apostelgeschichte und den Apostelbriefen ist deutlich zu ersehen: Die Kirchenvorsteher wurden nicht von den Kirchengemeinden ausgesucht und in ihr Amt eingeführt, sie walteten als Gottberufene, nicht als Volksbeauftragte ihres heiligen Amtes (Apg. 14,22; 20,28; Tit. 1,5). "Keiner (von den Hohenpriestern) masst sich die Würde an, sondern er wird von Gott berufen wie Aaron" (Hebr. 5,4). So ist der Primat des Apostels Petrus und seiner Nachfolger in Rom eine Verfassung von Gottes Gnaden, nicht von Volkes Gnaden.
Das Heilandwort "Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen" war die Antwort auf das Petrusbekenntnis: "Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes". Der Glaube an den Petrusprimat in der Kirche hängt also von Haus aus unlösbar mit dem Glauben an die Gottheit Christi zusammen. Wer überhaupt auf dem Boden des Evangeliums steht, kann den Glauben an die Gottheit Christi und den Glauben an die Kirche auf dem Felsen Petri nicht von einander trennen oder gar in Gegensatz zu einander bringen. Wenn schon das Wort des Apostels "Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes" nicht von Fleisch und Blut geoffenbart war, dann ist noch viel mehr die Antwort Christi "Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen" vom Vater im Himmel, nicht von Fleisch und Blut geoffenbart. Hier hat das Evangelium allen Wahrheitsuchern vom Christusglauben zum Kirchenglauben eine Brücke geschlagen. In seinen Briefen hat der Apostel Petrus später vor aller Welt bekannt, er sei nichts als ein Sendbote Jesu Christi (1 Petr. 1,1), durch dessen Blut wir erkauft (1,19), durch dessen Wunden wir geheilt (2,24) und zu Erben des ewigen Lebens wiedergeboren wurden (3,22); ebenso feierlich hat Petrus seine Gemeinde ermahnt, ihre ganze Hoffnung auf die Gnade unseres Herrn zu setzen (1,13), in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes zu wachsen (2 Petr. 3,18). Auch damit hat die Offenbarung beurkundet: Christus bleibt das eigentliche, unsichtbare Oberhaupt der Kirche, und das Bekenntnis zum sichtbaren Stellvertreter Christi auf Erden stellt das Be-
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kenntnis zu Christus nicht unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter.
Ein zweites Heilandwort an Simon Petrus hat den Primat nochmals als Felsen des Glaubens, der kirchlichen Einheit und sittlichen Ordnung aufgestellt. In seinen Abschiedsreden hat Christus zu Petrus gesprochen: "Simon, ich habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht abnehme. Du aber, wenn du bekehrt bist, bestärke deine Brüder" (Luk. 22,32)! Auch dieses Heilandwort hat den Apostel Petrus mit einem einzigartigen Auftrag und einer einzigartigen Vollmacht im Kreise der übrigen Apostel ausgestattet. Auch die übrigen Apostel waren Sendboten und Hüter der heiligen Lehre und Ausspender der heiligen Geheimnisse, und von den Aposteln ist diese heilige Erbschaft auf ihre Nachfolger, auf die Bischöfe der katholischen Kirche, übergegangen. Petrus aber und seine Nachfolger haben von Christus dem Herrn den Auftrag und das Charisma erhalten, ihre Brüder, die Mitapostel, im Glauben zu bestärken. – Wohl hat Petrus später den Meister in einer schwachen Stunde verleugnet, das Gebet des Meisters aber – "ich habe für dich gebetet" – hat seinen wankenden Glauben wieder aufgerichtet und gerade dadurch die Kirche als Gottesbau1 erwiesen. Nur Gottes Geist kommt auf den Gedanken, das Schwache zu erwählen, um damit zu bestärken; nur Gottes Hand kann über einem wankenden Grundstein ein ewiges Gebäude aufrichten. – Christus hat für Petrus gebetet. Sein Gebet ist Allmacht und bleibt für alle Zeiten die Bürgschaft dafür, dass die rechtmässigen Inhaber des römischen Primates die Glaubenswahrheiten mit unfehlbarer Sicherheit behüten und verkünden werden. Christus hat für Petrus gebetet. Sein Gebet ist Allmacht und gibt uns die frohe Zuversicht, dass wir vom Lehrstuhle Petri die reine Wahrheit erhalten und keine Beute des Irrtums werden. – Der Auftrag Christi an Petrus und seine Nachfolger, die Brüder im Glauben zu bestärken, enthält in der Kehrseite den Auftrag Christi an die übrigen Apostel und ihre Nachfolger, sich von Petrus im Glauben bestärken zu lassen. Auch aus diesem Grunde wallfahren die Bischöfe des Erdkreises alle fünf Jahre zum Heiligen Vater nach Rom. "Bei dieser Kirche muss wegen ihres besonderen Vorranges jede Kirche sich einfinden", sagt der Martyrerbischof Irenäus im zweiten Jahrhundert (adv. haer. III c. 3).
Die neue Reichsverfassung hat die von Christus gestiftete Kirche mit allen beliebigen Glaubensgesellschaften auf die gleiche Stufe gestellt (Artikel 137 Abs. 5 und 7) und damit der Wahrheit und dem Irrtum die gleichen Rechte eingeräumt. Keine Staatsverfassung kann aber das Wort des Evangeliums umstossen: "Jede Pflanzung, die nicht mein himmlischer Vater gepflanzt hat, wird ausgerottet werden" (Math. [sic] 15,13). Keine Staatsverfassung kann das Wort des Apostels um-
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stossen, das die Kirche des lebendigen Gottes die Säule und Grundfeste der Wahrheit nennt (1 Tim. 3,15). Je wilder die Geister der Unwahrheit und Verlogenheit im öffentlichen Leben sich breit machen, um so grösser erscheint uns die Kirche, die auf ihrem Altare das heilige Pfingstfeuer der Wahrheit hütet, um so grösser erscheint uns das Oberhaupt der Kirche, das die Brüder im Glauben bestärkt.
Das Papsttum der Fels der Glaubenssicherheit! Mit dem Bilde vom Felsen wollte der Heiland offenbar auch dieses frohe Bewusstsein wecken: Euer Glaube steht auf felsenfestem Boden. Wie er in der Bergpredigt von jedem seiner Jünger forderte: Sei ein kluger Mann und baue dein Haus auf Felsenboden (Math. [sic] 7,24), so hat er selber seine Kirche auf Felsengrund gebaut. Auch wenn alle Völker mit ihrer Vergangenheit brechen und die Grenzsteine der Väter umstürzen, auch wenn die Staatsgebäude wanken und schwanken wie die Häuser beim Erdbeben – unsere heilige Kirche steht auf unerschütterlichem Grunde. "Der Strom" der Jahrhunderte "prallte an dieses Haus und konnte es nicht erschüttern, denn es war auf einen Felsen gebaut" (Luk. 6,48). Es werden neue Sturmwetter und Aergernisse kommen und manchen umwerfen, der innerlich bereits von seiner Kirche abgefallen ist, die Kirche selber wird auch die Erschütterungen und Umwälzungen des 20. Jahrhunderts überdauern. Die Pforten der Hölle haben öffentlich aufgerufen, aus der Kirche auszutreten. Meine teuren Diözesanen! Auf dem Boden der Kirche stehen heisst Felsenboden unter den Füssen haben, und diese Sicherheit gibt der Seele einen Frieden, den eigenes Forschen und kirchenfeindliches Aufhetzen niemals geben können. Aus der Kirche austreten heisst vom sicheren Felsen in die rasende See sich stürzen, wo nur ein Wunder der Gnade noch retten kann.
Nur in der römisch-katholischen Kirche ist die apostolische Nachfolge lückenlos aufrecht erhalten. Durch den heutigen Papst und die heutigen mit ihm verbundenen Bischöfe stehen die Gläubigen in Verbindung mit den Aposteln, durch die Apostel in Verbindung mit Christus, durch Christus in Verbindung mit dem Vater. In diesem Lichte verstehen wir das Heilandwort: "Wer euch hört, der hört mich; wer euch verachtet, der verachtet mich, und wer mich verachtet, der verachtet den, der mich gesandt hat" (Luk. 10,16). Mit anderen Worten: Wer in die Schule der apostolischen Kirche geht, geht in die Schule Christi. Wer auf den Wegen der Kirchengebote wandelt, wandelt auf den Wegen Christi. Wer aus der Hand der Kirche die Wasser des ewigen Lebens trinkt, trinkt aus den Wunden Christi. Wer aber von der Kirche sich lossagt, hat damit seinem Heiland und seinem Gott ins Gesicht hinein den Abschied gegeben. Wer mit Saulus die Kirche verfolgt, bekommt mit ihm das Wort zu hören: "Ich bin Jesus, den du verfolgst" (Apg. 9,5).
Das Papsttum der Fels der Glaubenssicherheit! Haben wir es nicht
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in der Zeit der Revolution mit Schrecken erlebt, wie alle Ordnung aus den Fugen geht, aller Gemeinschaftssinn erstirbt, alle Laster zur Herrschaft kommen, wenn keine feste Regierung im Lande ist? Danken wir Gott, dass wir wenigstens in religiösen Fragen noch eine Autorität besitzen, die kraft ihres obersten Lehramtes in Sachen des Glaubens und der Sitte das letzte, entscheidende Wort zu sprechen hat! Die religiösen Fragen bilden einen so unveräusserlichen Anteil des menschlichen Geisteslebens, dass der ehrlich forschende Menschengeist unvermeidlich immer wieder auf das religiöse Fragegebiet kommt. Sucht dann der forschende Geist Antwort auf die letzten Fragen und Ziele des Lebens, dann weist das kirchliche Lehramt Weg und Richtung, damit wir nicht "umhergetrieben werden von jedem Windstoss der Meinung, preisgegeben menschlichem Truge und hinterlistiger Verführung" (Ephes. 4,14). Werden die göttlichen Wahrheiten mit menschlichen Irrtümern vermischt, dann nimmt das kirchliche Lehramt die Wurfschaufel zur Hand, um den Weizen von der Spreu zu sondern. Drängen sich religiöse Kurpfuscher an das Volk heran, die ihm Steine statt Brot und Schlangen statt Fische reichen, dann erhebt der 261. Petrus seine Stimme mit den Worten des ersten Petrus: "Brüder, nehmt euch in acht, damit ihr nicht durch den Irrtum der Toren mitfortgerissen werdet und eure eigene Festigkeit verliert" (2 Petr. 3,17)! Ja, danken wir Gott, dass wir in Glaubensfragen eine feste Führung und gegebenenfalls eine letzte, entscheidende Stelle haben!
Das Papsttum der Fels der kirchlichen Einheit! Die Einheit der Kirche war ein besonderes Herzensanliegen des Heilandes. In seinem hohenpriesterlichen Gebete denkt er an alle, die auf das Wort der Apostel an ihn glauben werden, "damit alle eins seien, wie Du, Vater, in mir und ich in Dir" (Joh. 17,20). Die Wurzel und der Gipfel der kirchlichen Einheit aber ist und bleibt der Bischof von Rom als Nachfolger des Apostels Petrus. Auch die Bischöfe haben Gewalt zu binden und zu lösen (Math. [sic Matth.?] 18,18); auch die Bischöfe sind als Nachfolger der Apostel vom Heiligen Geiste bestellt, die Kirche Gottes zu regieren (Apg. 20,28), aber nur in Einheit mit dem Papste und in treuer Unterordnung unter den höchsten Inhaber der Schlüsselgewalt. Die staatlichen Einheiten fallen auseinander wie die Mauern des babylonischen Turmes, die wissenschaftlichen Anschauungen schillern in allen Farben des Regenbogens, die Glaubensgesellschaften ausserhalb der Kirche zersplittern sich und bilden immer neue Ableger, die katholische Kirche allein bietet das Schauspiel der inneren Einheit und Geschlossenheit, der Einheit des Lehramtes im Glauben, der Einheit des Priesteramtes im Gottesdienst und in den Sakramenten, der Einheit des Hirtenamtes in der Leitung der Kirche. Zu allen Zeiten haben die Feinde der Kirche versucht, diese kirchliche Einheit zu durchbrechen und den Hirten zu schlagen, damit die Herde sich zerstreue (Math. [sic] 26,31 nach
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Zach. 13,7). Wer Augen hat zu sehen und Ohren hat zu hören, kann heute in den kirchenfeindlichen Zeitungen und Versammlungen beobachten, wie der planmässige Lügenfeldzug gegen Bischöfe und Priester diesen alten Kunstgriff der Hölle wieder aufgreift und die Losung ausgibt: Schlagt die Hirten, dann wird die Herde von selber sich zerstreuen!
Meine lieben Diözesanen! Lasst Euch von der Gemeinschaft mit Euerer Kirche nicht losreissen! Bewahrt den innigen und treuen Anschluss an Euere Hirten, Eueren Oberhirten und an den obersten Hirten in Rom! Verschont das Heiligtum des Glaubens mit den modernen Schlagwörtern von Selbstregierung und Selbsterlösung! Wo der Heiland gesprochen hat: "Wie Mich der Vater gesandt hat, so sende Ich Euch" (Joh. 20,21), da können die Ausspender der heiligen Geheimnisse nur als Gesandte Christi, nicht als Volksbeauftragte tätig sein. Die Bäume der Erde wachsen von unten nach oben, die Sterne des Himmels aber leuchten uns von oben nach unten. Nur durch diese hierarchische Verfassung des kirchlichen Lehramtes, Priesteramtes und Hirtenamtes wird die Einheit des Glaubens gewahrt und die Zerklüftung aus dem Heiligtum der Kirche ferngehalten. Meldet Euch zur Mitarbeit in den katholischen Vereinen, wo katholische Tatkraft im Anschlusse an die Kirche sich entfalten kann und die kirchliche Einheit in der Zusammenfassung aller Laienkräfte sich wiederspiegelt [sic]! Die Kanzel des Glaubens bleibt auch heute den Männern der Weihe und kirchlichen Sendung vorbehalten, die Rednerpulte der Vereinshäuser aber stehen Männern und Frauen offen. Duldet keine Zeitungen und Flugblätter in Euerer Umgebung, die über Euere Kirche, über Papst und Bischöfe und Priester fortwährend Verleumdungen bringen und Zwietracht in Eueren Reihen stiften! Lasst Euch nicht zerstreuen und Euere Hirten nicht schlagen! Das Hirtenamt ist der Fels der kirchlichen Einheit.
Das Papsttum ein Fels der sittlichen und sozialen Ordnung! Vom christlichen Altertum bis zur Neuzeit haben die Päpste die Gebote Gottes als Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung und der völkischen Wohlfahrt verkündet. Schon in den Briefen des ersten Papstes, des hl. Petrus, sind ewig giltige Grundsätze der staatsbürgerlichen und sittlich sozialen Ordnung enthalten: Man müsse der Obrigkeit gehorchen "um Gottes willen" (1 Petr. 2,13; 2,18 f.), man müsse "die Frauen in Ehren halten als Miterben der Gnade" (3,7), Brudersinn und Bruderliebe pflegen und einander dienen (3,8; 4,10), man dürfe den Weg der Wahrheit nicht lästern (2 Petr. 2,2), die Freiheit nicht als "Deckmantel der Schlechtigkeit" missbrauchen und nicht Freiheit verheissen, während man selber ein Knecht des Verderbens sei (1 Petr. 2,16; 2 Petr. 2,19). Wie aber wird eine staatliche Obrigkeit Gehorsam "um Gottes willen" erwarten dürfen, wenn sie den Namen Gottes aus dem öffentlichen Leben getilgt und Staatsgesetze erlassen hat, die den
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Geboten Gottes widerstreiten? Wie wird man im gesellschaftlichen Leben die Frau in Ehren halten und damit Ehe und Familie, wenn der Glaube an die Miterbschaft der Gnade zerstört ist? Wie werden die Menschen sich als Brüder lieben, wenn sie nicht mehr Gott ihren gemeinsamen Vater nennen? Die Petrusbriefe sind wie für unsere Zeit geschrieben und führen geradlinig zu den sozialen Hirtenbriefen Leos XIII. Der erste Petrusbrief hält den Unterschied der Stände aufrecht (2,17 f), sagt aber allen Ständen: Vor Gott gilt kein Ansehen der Person (1,17). Der zweite Petrusbrief hat die Genussucht [sic] und Gewinnsucht, die sich heute wie eine Lawine über unser totkrankes [sic] Volk hinwälzen, als den kürzesten Weg zum Verderben bezeichnet (2,2 f). So war das Papsttum schon im ersten Papste ein Fels der sittlichen und sozialen Ordnung.
Geliebte Diözesanen! Ein drittes Heilandwort an Simon Petrus hat den Primat als Hirtenamt heiliger Liebe für alle Zeiten eingeweiht. Das Johannesevangelium berichtet, wie Jesus nach der Auferstehung Simon Petrus wieder persönlich anredete und ihn dreimal fragte: "Simon, Sohn des Jonas, liebst du mich mehr als diese"? Wie Petrus demütig und etwas zaghaft in Erinnerung an seine dreimalige Verleugnung dreimal seine Liebe zum Meister beteuerte, und wie Jesus daraufhin ihm das höchste Hirtenamt anvertraute mit den Worten: "Weide meine Lämmer, weide meine Schafe" (Joh. 21,15–17)! Christus fragte nicht nach Stammbaum und Ahnen – im Reiche Gottes ist auch dem einfachen Galiläer ohne Ahnenprobe die Bahn zu den höchsten Aemtern frei. Christus fragte nicht nach Reichtum und Tischtitel, nicht nach Schulzeugnissen und staatlich anerkannten Prüfungen, Christus fragte, wie früher nach felsenfestem Glauben (Math. [sic] 16,15), so jetzt nach einer apostolischen Heilandliebe. Nach jener Liebe, die "stark ist wie der Tod" (Hohel. 8,6) und auch am Kreuze Gott verherrlicht (Joh. 21,18 f.), nach jener Liebe, die nur das Wohl der anvertrauten Gläubigen, nicht äusseren Glanz und Vorteil für sich selber sucht. Erst als der Heiland bei Petrus dieser heiligen Liebe sicher war, übertrug er ihm das höchste Hirtenamt, ohne vorher die Genehmigung des Herodes einzuholen oder eine Volksabstimmung herbeizuführen.
Apostolische Heilandliebe ist also das höchste Gesetz der Kirchenverfassung, apostolische Heilandliebe ist die Seele der Liebe zu den Seelen. Die Hirten der Kirche sind nicht von Volkes Gnaden, aber ganz zu Volkes Diensten aufgestellt (Luc. 22,27). Je mehr Gewalt und Vollmacht ein Hirt der Kirche hat, desto strenger ergeht an ihn die Vorfrage: "Liebst du mich mehr als die andern", und das höchste Vorsteheramt in der Kirche, die dreifach grosse Gewalt des Papsttums, ist ein dreifach heiliger Diakonat dienender Liebe.
Wenn wir einmal die Ereignisse der letzten fünf Jahre mehr aus der Ferne und mit vernarbten Wunden überschauen, wird sich das
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Pontifikat des Heiligen Vaters Benedikt XV. weltgeschichtlich als Hirtenamt heiliger Liebe, als Diakonat der Weltfürsorge, als Grossmacht des Segens darstellen. Ein Diakonat der Weltfürsorge war sein Pontifikat vor allem in seiner strengen Unparteilichkeit im Weltkrieg. Diese Unparteilichkeit war aber nicht eine bloss zuschauende, abwartend abseits stehende, sondern eine tatkräftige, in die Geschichte eingreifende Unparteilichkeit. Nicht eine selbstsüchtige, die vor allem ihre eigene Ruhe haben und ihre eigenen Grenzen sicherstellen will, sondern eine katholische, die über alle Grenzen hinüberreicht und alle Parteien umfasst, eine paulinische, die nicht Juden und nicht Griechen kennt (Gal. 3,28) und "allen alles werden" will (1 Kor. 9,22), den Besiegten und den Siegesfrohen, weil sie weiss: Der Sieg kann so gut wie die Niederlage einem Volk zum Fall und Untergang gereichen, und die Niederlage kann so gut wie der Sieg zur sittlichen Auferstehung eines Volkes führen, und beides, Sieg und Niederlage, ist in den Weltplan Gottes eingerechnet. Nicht alle Staatsregenten, auch nicht alle Katholiken, haben über ihre nationalen Kirchtürme sich hinausdenken und auf den hohen Standpunkt der strengsten Unparteilichkeit des Heiligen Vaters sich erheben können. So kam es, dass die gleiche päpstliche Kundgebung in deutschen Kreisen als deutsch-feindlich und zu gleicher Zeit in ausländischen Blättern als deutsch-freundlich empfunden wurde. Esau "heulte mit grossem Geschrei" (1 Mos. 27,34–36), sein Bruder Jakob habe ihn um die Erstgeburt und den Segen des Vaters betrogen. Und Jakob war beleidigt, weil er glaubte, sein Bruder Esau habe sich beim Vater in höhere Gunst gesetzt.
Die Schrecken des Krieges hatten sich aus sieben Zornesschalen gerade über katholische Länder, über Belgien, Polen, Armenien, ergossen. Von deutscher Seite war das frevelhafte Wort gefallen: Lieber keine als katholische Eroberungen. Von deutscher Seite wurden im Jahre 1917 die Siege des deutschen Heeres als eine Segnung der Reformation gefeiert. Und doch hat Benedikt XV. als gemeinsamer Vater allen mit dem gleichem Masse zugemessen und alle mit gleicher Liebe umfasst " ohne Unterschied der Nation und Religion", wie er selber in seiner Kundgebung vom 1. August 1917 sagte. Niemals fühlte sich der Heilige Vater in der Lage des biblischen Erzvaters, der dem einen Bruder allen Segen gegeben und für den später kommenden keinen Segen mehr aufgehoben hatte (1 Mos. 27,36–40), niemals brauchten sich die Völker in der Lage der feindlichen Brüder der biblischen Geschichte zu fühlen, von denen einer den anderen hasste "um des Segens willen, womit sein Vater ihn gesegnet hatte" (27,41). Im besonderen hat der Heilige Vater niemals in den Rachegesang zur Vernichtung des deutschen Volkes eingestimmt. Am 28. Dezember 1919 hat er für die Kinder, also für die Träger der Zukunft unseres Volkes, einen Hilferuf an die ganze katholische Welt gerichtet und damit aus-
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gesprochen, dass er an die Zukunft unseres Volkes glaubt und nicht wünscht, dass der Herr uns gänzlich verwerfe. Während andere dem deutschen Volke den Fluchpsalm entgegenschleuderten: "Selig, wer deine Kinder packt und sie am Felsen zerschmettert" (Ps. 136,9), hat Papst Benedikt um Brot und Liebe für die Kinder gerufen. Während viele Fäuste sich gegen Himmel ballten und viele Stimmen riefen: "Tilgt sie aus, die Deutschen, aus dem Buche der Lebendigen", hat der Heilige Vater in der Weihnachtsansprache an die Kardinäle seine Stimme erhoben: Man dürfe die Besiegten nicht ganz und gar vernichten. Darum müssen gerade wir dem Heiligen Vater für diese unparteiliche Haltung ewig dankbar bleiben. Wir werden für ihn beten, wie die erste Christengemeinde für Petrus im Gefängnisse ohne Unterlass betete (Apg. 12,5). Wir werden ihm auch weiterhin für seine weltgrossen wirtschaftlichen Sorgen unseren Peterspfennig schicken, der jetzt allerdings gleich dem Scherflein der armen Witwe mehr nach der Grösse der gebenden Liebe als nach der Grösse der Gabe beurteilt werden will.
Ein Diakonat der Weltfürsorge ist das Pontifikat von Benedikt XV. in seiner steten Arbeit für den Weltfrieden. Auch von ihm gilt das Wort der Hl. Schrift: "In der Zeit des Zornes ist er eine Versöhnung geworden" (Ecclus. 44,17). Die päpstliche Diplomatie ist in diesen Jahren unter unausdenkbar schwierigen Verhältnissen kerzengerade Wege des Friedens und der Völkerversöhnung gegangen, unbekümmert darum, ob heute von dieser, morgen von jener Seite der Versuch gemacht wurde, den Statthalter Christi zum politischen Bundesgenossen zu machen. So oft er redete, um grausame militärische Massnahmen abzustellen oder Unversöhnliche zur Feindesliebe zu ermahnen; so oft er schwieg, um grösseres Unheil hintanzuhalten oder um eine günstigere Stunde abzuwarten – sein Reden und sein Schweigen diente dem Frieden. Sein Friedensgebet war wie ein Engelsgruss von Bethlehem. Die Weltkommunion der Kinder am 30. Juli 1916 war ein Weltgebet um den Frieden. Sein Friedensvorschlag vom 1. August 1917 hätte den Zusammenbruch von Deutschland und Österreich verhütet, wenn er diesseits der Alpen mit mehr Verständnis und Vertrauen aufgenommen worden wäre. Der päpstliche Friede, der damals zurückgewiesen wurde, wäre ein Friede der Gerechtigkeit geworden. Wiederum wandte sich der Heilige Vater, als die Mächte der Erde nicht mehr auf ihn hörten, an die Allmacht des Himmels, indem er zu Peter und Paul 1918 auf der ganzen Welt die heilige Messe als Friedensopfer aufopferte. In der Zeit des Zornes ist er eine Versöhnung geworden.
Als Diakonat der Weltfürsorge wird das Pontifikat unseres Heiligen Vaters in der Weltgeschichte leuchten, wenn einmal alle Akten seiner unermüdlichen Liebestätigkeit für die Opfer des Krieges aufgeschlagen werden. Im zweiten Monat des Weltkrieges musste er den Hirtenstab des heiligen Petrus in die Hand nehmen und während
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des ganzen Krieges hat er sein Hirtenamt als Erbe der Petrusliebe betätigt. Wie hat Benedikt XV. fortwährend das Ansehen seines hohen Amtes eingesetzt, um das Los der Gefangenen aller Parteien zu mildern, die briefliche Verbindung und den sonstigen Postverkehr mit den Familien in der Heimat einzuleiten oder zu erleichtern, in den Gefangenenlagern den Sonntag als wirklichen Ruhetag einzuführen, überhaupt den Gefangenen den Trost der Seelsorge womöglich in der Muttersprache zu verschaffen, den Studierenden Gelegenheit zum Weiterstudium zu vermitteln, den Kranken bestmögliche ärztliche Hilfe und Pflege angedeihen zu lassen, die am schwersten Verwundeten und am längsten schon Gefangenen durchgangsweise in der Schweiz und in Holland unterzubringen, in den verschiedenen Ländern Fürsorgestellen einzurichten, die für die Gefangenen Hand in Hand arbeiten sollten, überhaupt alles zu versuchen, um eine menschliche Behandlung und baldige Heimführung der Schwergeprüften durchzusetzen. In dankbarer Erinnerung werden beim deutschen Volke auch die Trostbesuche bleiben, die der Apostolische Nuntius von München, Monsignore Pacelli, im Auftrage des Heiligen Vaters in den deutschen Gefangenenlagern machte, und die reichen Liebesgaben, die durch die Apostolische Nuntiatur in München an die Gefangenen ausgeteilt wurden. Seit November 1918, seit unsere Gefangenen einseitig im Auslande zurückbehalten wurden, hat Papst Benedikt zehnmal amtliche Schritte der Fürsorge für unsere Gefangenen ohne Unterschied des Glaubens unternommen. Auch für die übrige Not des Krieges, im besonderen für den Mangel an Lebensmitteln, war der Heilige Vater, obwohl selber arm, ein überreicher Helfer in der Not. Was uns heute unsere Glaubensbrüder aus Amerika schicken, erhalten wir auf den Ruf des Heiligen Vaters, also mittelbar aus seinen Händen. Als Papst des Friedens und der Liebe wird Benedikt XV. in der Weltgeschichte leben. In der Zeit des Zornes ist er eine Versöhnung geworden.
So hat sich gerade in der Zeit der Drangsal aufs neue geoffenbart, dass Christus in seiner Kirche fortlebt, fortlebt und fortleidet, fortleidet und fortsegnet, fortsegnet und fortsiegt. "Christus ist Sieger, Christus ist König, Christus ist Herrscher!" Die deutsche Revolution ist nur an der Oberfläche eine politische und wirtschaftliche Umwälzung, in den Grundwellen ist sie eine sittliche und religiöse Umsturzbewegung. Das wird sich zeigen, wenn einmal die tiefsten Wurzeln und die letzten Ziele der Revolution aufgedeckt werden. In Bayern zumal hat der offene und noch mehr der schleichende Kulturkampf seit dem Ausbruche der Revolution nicht gerastet. Sogar Pilatus und Herodes, die sonst unversöhnlichen Feinde, schliessen Bruderschaft, wenn es gegen die katholische Kirche und ihre Diener geht. Die Feinde der Kirche wachen und schmieden immer neue Waffen; da dürfen die
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treuen Kinder der Kirche nicht schlafen und die Waffen des Lichtes nicht rosten lassen. "Sehet zu, dass Euch niemand verführe" (Mark. 13,5), und lasst Euch von den Anschlägen der Kirchenfeinde nicht überraschen! Seid klug und bauet Euer Haus auf Felsenboden! Der Herr suche den Weinberg heim, den seine Rechte gepflanzt hat, und bleibe dem obersten Hirten der Kirche ein starker Turm wider seine Feinde!
Zum Abschied hat mir der Heilige Vater die Vollmacht gegeben, meinen geliebten Erzdiözesanen in seinem Namen den päpstlichen Segen zu erteilen und damit Euch alle, im besonderen auch unsere teuren, jetzt heimkehrenden Gefangenen dem Schutze und der Gnade des Allmächtigen zu empfehlen. Der Gruss des Heiligen Vaters ist der Gruss des Apostelfürsten Petrus: "Gnade sei Euch und reichlicher Friede" (1 Petr. 1,2; 2 Petr. 1,2)! So möge der Segen des Heiligen Vaters wie Salböl vom Haupte des Hohenpriesters (Ps. 132,2) über Euch alle kommen im Namen des + Vaters und des + Sohnes und des + Heiligen Geistes. Amen.
Gegeben zu München, am 24. Januar 1920.
+ Michael,
Erzbischof von München und Freising.
1Auszeichnung nach Worttrennung am Zeilenbeginn bei "bau" nicht fortgeführt.
Empfohlene Zitierweise
Faulhaber, Michael von, Hirtenbrief für die Erzdiözese München und Freising Fastenzeit 1920: Das Papsttum in unserer demokratischen Zeit, München vom 24. Januar 1920, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 6615, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/6615. Letzter Zugriff am: 05.05.2024.
Online seit 14.01.2013.