Rätesystem

In seinem Bericht über das "Rätesystem" beschäftigte sich Pacelli mit einem Phänomen, das seit der Entstehung der ersten Räte während der Russischen Revolution von 1905 zahlreiche Facetten entwickelte. Bei Räten handelt es sich um transitorische oder dauerhafte Formen direktdemokratischer Organisation von Arbeitern, Soldaten und auch Bauern zur Kontrolle von Betrieben, Städten oder ganzen Territorien sowie zur Durchsetzung politischer Ziele.
Für das Deutsche Reich ist dabei die Novemberrevolution von 1918 von maßgeblicher Bedeutung. In ihr bildeten sich überall im Reich Arbeiter- und Soldatenräte. Im Gegensatz zur weit verbreiteten zeitgenössischen Auffassung ging von ihnen nicht die Gefahr einer Bolschewisierung Deutschlands aus. Vielmehr hingen sie der Idee einer Demokratisierung von Bürokratie, Militär und Wirtschaft an und versuchten in den allermeisten Fällen, Ruhe und Ordnung herzustellen sowie einen friedlichen Übergang von der Monarchie zur Republik zu garantieren. Die Räte wurden von den Mehrheits- (MSPD) und den Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) dominiert. Aber auch bürgerliche Kräfte beteiligten sich an ihnen.
Daneben vertraten Teile der USPD die Idee eines linkssozialistischen Rätestaates. Insbesondere der Spartakusbund um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wollte die Räte mit politischen Aktionen der Massen verbinden, um in Deutschland eine sozialistische Revolution zu entfachen.
Erst als im Verlauf des Jahres 1919 die Hoffnungen auf eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft enttäuscht wurden und sogar gegenrevolutionäre Kräfte erstarkten, gewannen radikale Strömungen, die sich an den russischen Sowjets der Oktoberrevolution von 1917 orientierten, spürbaren Einfluss auf die Räte. Lediglich während der Münchener Räterepublik eroberten sie vorübergehend die politische Macht.
Nach der Niederschlagung dieses und anderer Versuche der Etablierung eines Rätestaates in Deutschland wie des Berliner Spartakus-Aufstandes und der Bremer Räte-Republik 1919 wurden die Räte als Betriebsräte auf den Bereich der Organisation des Wirtschaftslebens begrenzt, wobei ihr Einfluss dort aufgrund zahlreicher gesetzlicher Restriktionen sehr begrenzt war.
Literatur
ARNOLD, Volker, Rätebewegung und Rätetheorien in der Novemberrevolution. Räte als Organisationsformen des Kampfes und der Selbstbestimmung (Texte zur Arbeiterbewegung), Hamburg 1985.
AVAKIAN, Béatrice, Räte, in: Kritisches Wörterbuch des Marxismus 6, Berlin 1987, S. 1103-1105.
DÄHN, Horst, Rätedemokratische Modelle. Studien zur Rätediskussion in Deutschland 1918-1919 (Marburger Abhandlungen zur politischen Wissenschaft 30), Meisenheim am Glan 1975.
GRAU, Bernhard, Kurt Eisner 1867-1919. Eine Biographie, München 2001, S. 421-423.
KOLB, Eberhard, Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918-1919 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 23), Düsseldorf 1962.
TORMIN, Walter, Zwischen Rätediktatur und sozialer Demokratie. Die Geschichte der Rätebewegung in der deutschen Revolution 1918/19 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 4), Düsseldorf 1954.
Empfohlene Zitierweise
Rätesystem, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Schlagwort Nr. 18116, URL: www.pacelli-edition.de/Schlagwort/18116. Letzter Zugriff am: 28.03.2024.
Online seit 04.06.2012, letzte Änderung am 17.12.2014.
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