Kardinalsversammlung zur Situation in der Sowjetunion vom 17. Dezember 1923

Am 13. Dezember 1923 lud Giuseppe Pizzardo im Auftrag Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparris die Kardinäle Raffaele Merry del Val, Gennaro Granito Pignatelli di Belmonte, Raffaele Scapinelli di Leguigno, Francesco Ragonesi, Giovanni Tacci, Antonio Vico und Achille Locatelli für den 17. Dezember zu einer Versammlung ein. In der Einladung hieß es, dass die zweite Sektion des Staatssekretariats vom Papst mit der Organisation und Assistenz der päpstlichen Hilfsmission in Russland betraut worden sei. Da große Schwierigkeiten aufgetreten seien, sei der Rat der Eingeladenen notwendig.
Dazu erhielten die Kardinäle eine "Relazione". Diese schildert die Bemühungen der seit 1921 bestehenden päpstlichen Hilfsmission in Russland sowie das Engagement ihrer Vertreter für verfolgte orthodoxe und katholischen Geistliche. Seit 1922 habe es zudem Verhandlungen von Vertretern des Heiligen Stuhls mit sowjetischen Diplomaten in Rom und Genf gegeben. Die Hilfsmission sei sehr erfolgreich gewesen und habe meist ungestört arbeiten können. Gleichzeitig würden aber einheimische Geistliche verfolgt. Seit 1923 habe sich die Versorgungslage in der Sowjetunion gebessert, am 1. August 1923 habe die entsprechende Vereinbarung mit der Sowjetregierung geendet. Der Leiter der päpstlichen Hilfsmission, Edmund Aloysius Walsh SJ, plädiere für eine Fortsetzung der Mission, wenn auch in reduzierter Form. Die entsprechenden Verhandlungen gestalteten sich aber schwierig, insbesondere in Hinblick auf die persönliche Immunität der Agenten, auf die Immunität ihrer Unterkünfte und auf die diplomatischen Kuriere. Daneben schilderte die "Relazione" die Maßnahmen der Sowjets gegen die katholische Kirche und andere Religionsgesellschaften: das Verbot des Religionsunterrichts für unter 18-Jährige, die Enteignung der Kirchen und ihre gottesdienstliche Nutzung nur gegen Entgelt sowie insbesondere der Prozess gegen Generalvikar Konstanty Romuald Budkiewicz und die Inhaftierung des Bischofs von Migiljow Johann Baptist Cieplak. Schließlich berichtete die "Relazione" vom Wunsch der Sowjets, vom Heiligen Stuhl diplomatisch anerkannt zu werden. Unlängst habe ein Gesandter des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin für eine solche Anerkennung Konzessionen in Aussicht gestellt: die Freiheit für die Verurteilten der Prozesse vom März 1923, Unterrichts- sowie Gewissens- und Kultfreiheit. Mit der Entsendung eines Apostolischen Delegaten würden sich die Sowjets allerdings nicht zufrieden geben. Umstritten sei auch, ob man die Sowjetunion de facto oder de iure anerkennen solle und ob dies auch eine Anerkennung ihrer Politik und Gesellschaftsordnung bedeute.
Die Kardinäle sollten dementsprechend die Frage beantworten: "Se e come possa accogliersi la richiesta del Governo Russo di avere relazioni dirette e diplomatiche colla Santa Sede."
Aus dem Protokoll geht hervor, dass die Kardinäle der Sowjetregierung insgesamt misstrauten, die Gelegenheit aber nicht verstreichen lassen wollten. Sie schlossen sich dem Votum Gasparris an, einen Apostolischen Delegaten ohne diplomatischen Charakter, aber mit der Erlaubnis, mit allen örtlichen Stellen (die Regierung nicht ausgeschlossen) zu verhandeln, zu entsenden und die Sowjetregierung wenn nötig de facto anzuerkennen. Im Gegenzug solle die Regierung einem Forderungskatalog zustimmen, den Walsh zusammengestellt hatte. Dieser beinhaltete die Befreiung Cieplaks und anderer aus politischen Gründen gefangener katholischer Priester und Laien, die Garantie der Gewissens- und Religionsfreiheit, die Freiheit der Priesterausbildung und eine Einigung in der Frage der Benutzung der Kirchen.
In der Audienz vom 18. Dezember 1923 stimmte Papst Pius XI. diesem Beschluss im Großen und Ganzen zu. Er hielt eine de jure-Anerkennung der Sowjetunion und eine Entsendung eines Nuntius oder Gesandten mit diplomatischen Charakter für verfrüht. Der Papst stimmte dem Experiment der Entsendung eines Apostolischen Delegaten mit bischöflichem Charakter zu, der die notwendigen geistlichen Fakultäten hätte und mit allen Stellen, auch der Regierung, verhandeln könne. Dazu seien aber Zeichen des Entgegenkommens der Sowjetregierung notwendig: die Befreiung Cieplaks und seiner Mitgefangenen, die Freiheit für den Delegaten, sein geistliches Amt auszuführen, und die Ordnung der Situation der Kirche, zumindest die Nutzung der katholischen Kirchen und die Legalisierung der religiöse Erziehung für unter 18jährige.
Quellen
Pizzardo an Merry del Val, Granito del Belmonte, Scapanelli, Ragonesi, Tacci, Gasparri, Vico und Locatelli vom 13. Dezember 1923, Entwurf; S.RR.SS., AA.EE.SS., Russia, pos. 659 P. O., fasc. 40, fol. 50r.
Segreteria di Stato di Sua Santità, Russia, Dicembre 1923; S.RR.SS., AA.EE.SS., Russia, pos. 659 P. O., fasc. 40, fol. 59r (84 Seiten).
Adunanza del 17 Dicembre 1923; S.RR.SS., AA.EE.SS., Russia, pos. 659 P. O., fasc. 41, fol. 6r-21v.
Literatur
PETTINAROLI, Laura, La politique russe du Saint Siège (1905-1939) (Bibliothèque des Écoles françaises d'Athènes et de Rome 367), Paris 2015, in: books.openedition.org (Letzter Zugriff am: 30.01.2017).
Prozesse in der Sowjetunion im März 1923; Schlagwort Nr. 9066.
Empfohlene Zitierweise
Kardinalsversammlung zur Situation in der Sowjetunion vom 17. Dezember 1923, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Schlagwort Nr. 9067, URL: www.pacelli-edition.de/Schlagwort/9067. Letzter Zugriff am: 19.04.2024.
Online seit 18.09.2015, letzte Änderung am 25.02.2019.
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