Dokument-Nr. 2832
Dobryłło, Matas an Michalkiewicz, Kazimierz Mikołaj
[Sejny], 27. November 1917

[Übersetzung]
Illustrissime Domine.
In diesen Tagen erhielt ich aus Wilna zwei von Litauern und Litauerinnen unterschriebene Proteste aus Anlaß der allzu strengen Bestrafung der vier Geistlichen: Priester Domherr Kuchta, Priester Dr. Bakszys, Priester Brazys Professor des Wilnaer Seminars sowie des Priesters Dr. Stankiewicz, Präfekten der Schulen der Diözese Sejny. Die Verwirrung in der heiklen Angelegenheit, des Priesters Stankiewicz veranlaßte mich, dieses Schreiben an den Erl. Verweser der Wilnaer Diözese zu senden.
In dem von den lit. Einwohnern Wilnas geschriebenen Protest wird gesagt, dass die erwähnten Priester nur einzig dafür suspendiert wurden, weil sie das Memorial an die deutschen Behörden unterschrieben haben. Den Text des lit. sowie des poln. Memorials kennend, wunderte ich mich sehr, dass ein rein geschichtlicher Streit, gestützt auf Tatsachen ein Grund zur Suspendierung der Priester sein könnte. Nachdem ich aber das Protokoll und die Motive der Suspendierung gelesen habe, überzeugte ich mich, dass tatsächlich Illustr. mit den Mitgliedern des Kapitels, ausgehend von dem Grundsatz, dass diese Priester das lit. Memorial unterschreibend beim Volke Ärgernis hervorgerufen haben – dieselben von ihren Seelsorgerpflichten suspendierten.
Welches Ärgernis gaben diese Priester und wem? Das ungebildete, einfache Volk liest keine Zeitungen und wenn es dieselben liest, so kennt und versteht es die Eigenheiten der Polemik und der Geschichte nicht. Wenn bei der Intelligenz und den Journalisten das Memorial Ärgernis erregt hat, so konnte es ein pharisäisches Ärgernis sein. Wer hat das erste Memorial herausgegeben? Die Polen. Das lit. Memorial ist zum Teil eine polemische Antwort auf das poln. Memorial und dieses ist gestützt auf Sophismen und falsche Einwände und unterschrieben von einigen Polen und dem Verweser der Wilnaer Diözese; daher sind die ersten Schuldigen dieses angeblichen Ärgernisses die Polen und alle auf dem poln. Memorial Unterschriebenen, da dieselben die poln. Lit. Angelegenheit in dieser Zeit anregend, das Ärgernis hervor-
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riefen.
Dass die Polen die Freiheit begehren und nach derselben streben, nimmt ihnen keiner dieser Litauer übel, im Gegenteil ist dieses Streben lobenswert, aber die Polen, so für sich die Freiheit begehrend, die sie bis dahin noch nicht ganz erlangt haben, versuchen schon, die Litauer ihrer Freiheit zu berauben und Litauen unter den ungebetenen Schutz zu nehmen. Zu diesem Zweck haben auch die Polen das Memorial gestützt auf irrige Tatsachen und Ausflüchte an die deutschen Behörden gerichtet. Und so wird im poln. Memorial gesagt, dass Litauen nie selbständig war und auf Grund von Verträgen und Übereinkünften mit Polen vereinigt ist und 2. In Litauen sind die Polen so gemischt und vereinigt mit den Litauern, dass es in Litauen keine Ortschaft gibt, von der man sagen könnte, dass dort die Litauer überwiegen und die Mehrheit bilden.
1.°Was die Verträge und Übereinkünfte anbetrifft, so reicht darauf ein kurze Antwort aus: die nichtswürdige Hand der russ. Zaren hat schon längst die poln.-lit. Verträge zerfetzt und zerrissen durch Anarchie und die Unfähigkeit der poln. Regierung sind wir Litauer und Polen in das moskowitische Joch geraten. Einigen Polen hat auch diese Unfreiheit behagt und sie begehren weiter in diesem Joch zu bleiben, da sie in Amerika, in Frankreich und Russland Legionen zum Schutze der Unfreiheit bilden.
2.°Der zweite in dem Memorial erwähnte Punkt, dass es in Litauen keine Ortschaft gibt, wo die Litauer in überwiegender Mehrheit waren, ist eine leichtsinnige Behauptung und Faselei. In der Diözese Sejny usw. in den Kreisen Mariampol, Sejny und Kalwarja kann es höchstens 5% Polen geben, in den Kreisen Wylkowysk und Wladislawow 2-3%; dort sind einige Parochien vorhanden, in welchen kein einziger Pole wohnt.
Das poln. Memorial, gestützt auf irrige Tatsachen, unterschrieben pol. Bürger! Bürger-Agitatoren konnten solches tun. Jedoch Illustr. Dom., der Verweser der Wilnaer Diözese, der geistliche Hirte, der Vater der Litauer und Polen, wie konnte
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er mit ruhiger Hand seine Unterschrift setzen unter die Forderung der Angliederung Litauens an das Kgr. Polen! Wer hat sie, Erl. Prälat dazu bevollmächtigt, haben die Litauer darum gebeten? So wie jedes Vögelchen, so verlangen auch die Litauer nach Freiheit und begehren die Selbständigkeit.
Der heute uns glücklich die Kirche regierende hl. Vater Benedikt XV. empfahl der ganzen Geistlichkeit und besonders den Verwaltern der Diözesen, dass sie gegenüber den Nationen volle Neutralität wahren sollen – damit sie alle Freien und Unfreien mit gleichem Schutz umgeben könnten. Und dennoch hat die Unterschrift Illustr. Dom. auf dem Memorial bewiesen, dass er nicht verstanden hat, die wohlwollende Neutralität zu wahren, welche der hl. Vater so heiß ersehnt, sondern er hat mit einem Federstrich die zweite Hälfte seiner Diözese in Trauer versetzt und mehr Ärgernis angestiftet als die Unterschriften der vier Priester. Zur Beschuldigeung der Priester wird in der Suspendierung gesagt, dass sie ein Memorial unterschrieben, in welchem die Geistlichkeit angeklagt wird, dass sie durch die Kirche die Litauer polonisiert hat. Leider! Unangenehm und sehr traurig, dass diese Rolle oft gespielt wurde, wenn auch nicht von allen Geistlichen. Die Diözese Sejny wurde meistens von poln. Bischöfen verwaltet. Mit größtem Eifer versuchte dieses zu erreichen der Priester Paul Starszynski, Bischof der Diözese Sejny, welcher mit einem sonderbaren Hass gegen die latauische Sprache erfüllt war und sie nicht anders als die (Bock) Schafsprache nannte. Rein lit. Parochien gab er poln. Pfarrern, welche nicht ein Wort Litauisch verstanden und ohne Kenntnis dieser Sprache auf ihren Parochien starben. Der Priester Jamiolkowski, Professor der Literatur und der Predigeraussprache, sagt, die Geschichte der Diözese Sejny schreibend, vom Bischof Starszynski folgendes: Der Bischof, von anderer Seite fast ganz ohne Vorwurf, beging jedoch während seiner Amtszeit den größten Fehler, dass er, um die Litauer zu polonisieren, den Parochien Masuren gab, die die lit. Sprache nicht kannten. Dieses ist nicht die Ansicht eines Li-
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tauers, sondern eines wahren, im Gouv. Lomza, in Podlachien geborenen Polen. Aus Mangel an Zeit und Raum will ich nur einen allgemeinen Beweis anführen, wie die Polen durch die Kirche die Litauer polonisierten. Bis zum Jahre 1864 waren im Kgr. Polen und in Litauen Polen als Kuratoren der Schulbezirke. So weit ich mich entsinnen kann, war der Kurator des Schulbezirkts in Wilna der Graf Potocki, in Warschau der Literat Polujanski Korzeniowski und andere. Nicht nur, dass zu ihrer Amtszeit in den Gymnasien in Suwalki und Mariampol nicht lit. gelehrt wurde, sondern man verbot auch in den Elementarschulen die lit. Sprache. Das Gebet und der Religionsunterricht durften von den Geistlichen nicht anders als in poln. Sprachen gelehrt werden. Wer sich einmal in die Schule einschreiben ließ, der musste seine Muttersprache verleugnen. Die Tatsache, dass es sich so verhielt, dass man so handelte und nicht anders, werden keine Suspendierungen von Priestern aus der Geschichte der Union Polens mit Litauen auslöschen, sondern sie werden noch mehr Beweise erbringen, dass die poln. Regierung sogar mit Hilfe der Kirche, Litauen zu polonisieren versuchte und dieses Ziel dreist und offen anstrebte. Böse Leute sagen, dass die Polen durch diese Handlungsweise allein der mosk. Regierung den Weg gezeigt haben, wie man Polen und Litauen russifizieren soll. So wurde bald nach dem poln. Aufstand in Wilna und Kowno auf den Straßen der Befehl ausgehängt: "Es ist verboten, Poln. Zu sprechen." Kurz darauf wurde diese Aufschrift auch an den Bildungsstätten des Kgr. Polen und Litauen angebracht. – Gleiches mit Gleichem und nichts umsonst! Ich bitte Illustr. Dom. nachdrücklichst um Verzeihung, dass ich mich in dieser heiklen Sache so breit ausspreche, ich tat es in dem Sinne, um zu beweisen, wie falsch die Informationen sind, die Illustr. Dom. besitzen und dass er streng und illegal den Priester Stankiewicz bestraft hat, ihn von seinen Religions- und Seelsorgerpflichten entbindend, da St., wie mir versichert wird, in Wilna mit großem Nutzen für die städtische Bevölkerung gearbeitet hat. Dabei bin ich überzeugt, dass diese Suspendierung
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unschuldiger Priester weit mehr Ärgernis erregt hat, als die Unterzeichnung des Memorials. Daher bitte ich höflichst, Illustr. Dom. möge Priester Stankiewicz von seiner schweren Strafe entbinden, welche seinem guten Namen schadet. Wäre es nicht richtiger, wenn Illustr. Dom. statt mit der Peitsche der Suspendierung unschuldige und verdiente Geistliche zu geißeln, mehr Kräfte und Energie dazu aufwandte, um die Ortsgeistlichkeit zur Lehre des Katechismus und der Glaubensgrundsätze zu wecken und anzuspornen statt zur flatterhaften politischen Manie. Wir haben uns während des Krieges überzeugt, wie niedrig und elend der Stand der Bevölkerung der Wilnaer Diözese in religiöser Hinsicht ist. Schon drei Jahre lang befinden sich in unserer Diözese Tausende meistens Ruthenen, welche verschiedenen Parochien zugeteilt, ihren religiösen Pflichten nachgehen. Was herrscht dort für eine Unkenntnis und ein moralisches Elend – sie haben keinen Begriff vom Glauben, von der Beichte, von der Sündenerkenntnis, von Reue, junge und alte Menschen, Frauen und Kinder haben eine einheitliche Formel, nach welcher sie ganz ohne Vorbereitung zur Beichte kommen. Wenn der Priester anfängt zu fragen, zu forschen und zu belehren, so erklärt jeder übereinstimmend, ich bin ein Wilnaer und bei uns verlangen die Geistlichen das nicht. Alle Geistlichen, die mit dieser Bevölkerung in Berührung kommen, sind sich darin einig, dass eine solche Unkenntnis und ein solches moralisches Elend in keiner Diözese besteht; es sind getaufte Heiden- und zu diesem moralischen Elend hat die unsinnige politische Manie der Geistlichkeit geführt.
Es wird erzählt, dass Pobiednoscew auf dem Totenbette sagte, er fühle sich glücklich, dass er sterbend in Russland 90% Analphabeten zurücklässt, da es am leichtesten ist, solches Vieh zu regieren. Über diesen Teil des Wilnaer Schafstalles, welchen wir hier in den letzten Jahren bearbeiten, und über diese religiöse Bildung kann sich nur Pobiednoscew freuen und mit ihm geistig verwandte Menschen, jedoch bringt diese grenzenlose Unkenntnis des Volkes der Geistlichkeit der Wilnaer Diözese Nachteile und
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Beschämung. Sie bringt nicht nur Scham und Schande, sondern auch die furchtbare Verantwortung vor Gott und den Menschen. Auf diese Mängel möge Illustr. Dom. seine größte Aufmerksamkeit lenken – und für die Säumigen und Eigensinnigen wäre hier eine Drohung und wenn auch eine Suspendierung am Platze.
Noch einmal meine demütige Bitte für den Priester Stankiewicz erneuernd, habe ich die Ehre Illustr. Dom. ergebener Diener zu bleiben.
gez. Priester M. Dobryllo
Generalvikar
der Diözese Sejny.
Empfohlene Zitierweise
Dobryłło, Matas an Michalkiewicz, Kazimierz Mikołaj vom 27. November 1917, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 2832, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/2832. Letzter Zugriff am: 26.04.2024.
Online seit 17.06.2011.