Dokument-Nr. 3810
Heikhaus, W. an Overbeck, Else
Avignon, 05. November 1920

Abschrift.
Gnädiges Fräulein!
Ihr lieber Brief hat mir viele Freude bereitet, obschon ich ihn nur in aller Eile durchlesen konnte, da er von der Zuchthauszensur beschlagnahmt wurde. Immerhin war der französische Dolmetscher anständig und gab ihn mir für einige Minuten zu lesen. Ihre Zeilen waren den Herrn Franzosen zu deutsch und hat der franz. Kommandant wieder mal zu merken bekommen, welcher Art meine Gesinnung ist. Na, das war ihm schließlich keine Neuigkeit mich als Monarchist zu erleben, der sofort wieder gegen die "grande nation, qui marche à la tète de la civilisation" losschlagen will! Sie werden mir glauben, daß ich dadurch in besondere französische Gunst geraten bin! Früher hat man keinen Hass gegen Frankreich gehabt, aber die Gefangenschaft und nicht zuletzt das Trauerspiel im Militärgefängnis, die Komödie auf dem Kriegsgericht und das augenblickliche Jammertal hier im Zuchthaus haben uns zu anderer Ansicht bekehrt. Der französische Glorienschein von Kultur, Zivilisation usw. ist unwiederbringlich dahin! Schließlich haben diese Sachen auch bloß in der französischen Einbildung bestanden. Jedenfalls ist der Hass in uns gegen Frankreich festgewurzelt. Die Welt soll zu klein sein für unseren Hass! Gebe Gott, daß ich den Tag der gerechten Vergeltung noch erlebe, wo wir nicht nur mit Frankreich, sondern auch mit unseren inneren Feinden abrechnen werden. Wenn ich nicht die Hoffnung auf eine Zukunft ohne rote Fahne auf dem Berliner Schlosse hätte, dann würde ich dem Vaterlande den Rücken kehren. Aber ich bleibe und will mitarbeiten.
Meine Sätze kommen nicht alle sehr schön und stilgerecht raus, denn die Gehirnsubstanz hat hier hinter den Zuchthausgittern nur ein geringes Betätigungsfeld. Im übrigen müssen Sie meine Schrift entschuldigen: Rechter Daumen total zerschossen!
Also: Gerade an dem Tage des Waffenstillstandes 1918 fuhr ich durch die Bretagne gefesselt zum Kriegsgericht Nantes. Da gab es auf den Bahnhöfen nur frohe Gesichter, kein Mensch sagte: "Sale Boche". Ich hatte seit 8 Wochen keine Zeitungen gelesen und traf mich die Nachricht des Waffenstillstandes wie Faustschläge. Ich hätte all diese freudigen Gesichter erwürgen mögen. Übrigens waren die Leute sehr wenig gehässig. Man bot mir Zigaretten an, ich mochte nicht. Ein Pfarrer sagte mir, wenn Deutschland gesiegt hätte, wäre jetzt ein Bourbon oder Orlèons hier auf dem Thron. Die Bretagne stellt die royalistischen Abgeordneten in der Kammer.
Im Militärgefängnis Nantes kam ich so richtig vom Regen in die Traufe. Wenn schon die 8 Wochen Voruntersuchung in Belle Ile unter aller Kanone gewesen war mit der feuchten Zelle und 1 Decke für die Nacht, so war es hier in Nantes einfach unmöglich. Keine Fensterscheiben in den Zellen. Der Wind fegte nicht wenig durch die Fensterrahmen. Ernährung gleich null. Ich als Boche bekam täglich 2 Esslöffel voll gekochtem Reis und heißes Wasser dazu. Außerdem 200 gr. Brot. Das ist ekle Wahrheit und werden Sie mir glauben, daß ich nach 12-wöchentlichem Aufenthalt 30 Pfund weniger wog. Schlief auf Zementboden mit 1 zerrissenen Decke. Mit der Zeit fiel mir das Aufstehen schwer vor Entkräftigung. Der edle Schließer flößte mir die nötigen Lebensgeister mit einem Ochsenziemer ein. Ein paar Mal bin ich umgefallen, wurde mir schwarz vor den Augen. Vor Hunger! Hinterher spürte ich noch einige Fußtritte. Ha, was sollte man machen? Machtlos wie man war, musste man eben alles mitmachen. Mit dem größten Vergnügen hätte ich den Kerl umgebracht. Schließlich bekam ich Gesellschaft in der Zelle. War ein französischer Soldat, der wegen Lustmord eingeliefert wurde. Sehr gehässig gegen mich und naturgemäß ein großer Zyniker.
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Dann kam noch einer hinzu. Hatte seine Frau durch 22 Messerstiche umgebracht. Begründete Eifersucht. Dieser gute Mann war noch ganz mit Blut bespritzt und machte mir mit seinem Löffel, der die Stelle des Mordmessers vertrat, das ganze Drama noch mal vor. Jedenfalls war der Kerl sonst nicht schlecht. Er gab mir 1 Pfund Brot. Das Blut seiner Frau stak noch unter seinen Fingernägeln. Trotzdem schmeckte mir das Brot. Ich war eben ein Vieh und könnte Ihnen aus meiner späteren Praxis aus dem Hungerlager Carpiagne einfach ekelerregende Beobachtungen auftischen. Mit besagtem Gattenmörder stellte ich mich auf Duzfuß und stahlen wir gemeinsam aus der Küche rohe Kartoffeln! Schließlich kam mein Verhandlungstag ran. Ja, warum handelte es sich denn?
Also: Im sogenannten Ruhelager Belle Ile en Mer bereiteten wir uns zur Flucht vor mit 5 Mann. Einer von uns stieg, als es so weit war, ins französische Magazin und stahl dort 3 Brote. Als Reserveproviant! Ich machte den Aufpasser bei der Geschichte. Die Franzmänner hatte nichts gemerkt und wollten wir am selbigen Abend losgehen. Ein Teilnehmer an der Unternehmung, ein Kampffliegerfeldwebel, erkrankte nun leicht. Abreise darum um einen Tag verschoben. In dieser Zwischenzeit verrieten 2 deutsche Feldwebel unseren Plan dem französischen Kommandanten. Der Dieb und ich wurden eingesperrt. Die anderen drei Teilnehmer haben wir nicht verraten, obschon man uns mit Hunger mürbe machen wollte. Das wäre also tatsächlich das ganze "Verbrechen"! Nun zum Verhandlungstag! Saß da ein Oberst und etliche andere Offiziere und Schreiber. Mein Verteidiger war ein französischer Kanonier, der in Zivil der Advokat war. Die beiden deutschen Lumpen waren ebenfalls zugegen. Als Zeugen! Die Offiziere waren einfach rührend, einer schlief während der ganzen Verhandlung. Die anderen Herren rauchten! Alle schienen sehr gelangweilt zu sein mit diesem Kohl von einem Boche. Ich erbat mir die genauen Personalien der beiden Belastungszeugen, um diese beiden Trauerknaben in Deutschland festzunageln. Man gab sie mir tatsächlich unter dieser Begründung! Dann kam der Staatsanwalt, ein Oberleutnant und legte los. Erzählte eine Masse von Boche, Guillame, Barbares usw. Der Verteidiger war sehr gut und tat sein Möglichstes. Ich hatte aber den Eindruck, als ob das Urteil schon vor der Verhandlung fertig gewesen wäre, denn kein Mensch hörte weder auf den Staatsanwalt noch auf den Verteidiger, weil inzwischen die Postordnanz Zeitungen ausgeteilt hatte. Es war toller wie in einer Operette! Als der Verteidiger ausgeredet hatte, las man die Zeitung zu Ende und zog sich zur Urteilssprechung zurück. Urteil: 8 Jahre Zuchthaus mit Einzelzelle für mich und für meinen Freund als "Dieb" 5 Jahre Zuchthaus.
Meine 8 Jahre wurden begründet, weil ich schon 2 Mal ausgerückt war und in einem Lager einen Streik angeführt [hatte]. Da ich noch das Unglück hatte, Sprachkenntnisse zu besitzen, fiel ich als Intellektueller doppelt dumm auf. Außerdem war ich von der Marinegruppe, welche in Gefangenschaft besonders gut angeschrieben war. Also 8 Jahre!
Na, mir war alles gleich, nur raus aus der Hungerhölle und irgendwohin ins Zuchthaus. Vorerst gab es dort den Spaß mit der Degration 4 Kompagnien im Viereck aufgestellt und die beiden Boche gefesselt in der Mitte. Kopf kahl geschoren, Schnurbart und Spitzbart ab. Man verlas nochmals das Urteil. 4 Kanoniere mit gezogenem Säbel umgaben uns. Ein Sergeant schnitt uns Kokarde und Knöpfe ab. Dann dürften wir die Fronten abschreiten. Immer mit der Ehrenwache hinter und neben uns. Eine ganze Menge Zivil, Kasernenlieferanten, Waschfrauen, usw. sahen dem Spaße zu und sparten gar nicht mit Schimpfworten. Ich war stolz wie nie zuvor! Diese Trauergesellschaft mit dem lächerlichen Hass. Aber alle kamen sich sehr wichtig und erhaben vor. Waren alles Rekruten, die keine Gefangenschaft kannten und eben darum unser Vergehen nicht zu würdigen verstanden. Später hat mir mancher Franzose, der selbst in Gefangenschaft war, Recht gegeben. Aber was will das
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Herr Clemenceau hat uns zu Schwerverbrechern gestempelt und darum sind wir es. Unter uns sind tatsächlich keine 10 Mann, die ernsthaft als "Verbrecher" in Betracht kämen. Falls Sie irgend eine Auskunft über uns haben wollen, dann wenden Sie sich bitte an Herrn Dobrin, Charlottenburg, Wilmersdorferstr. 21 II bei Lange.
Dobrin war selbst hier und brauchen Sie nur meinen Namen zu nennen, dann gibt er Ihnen jede Auskunft. Er ist Jude, aber ein außerordentlicher ruhiger Mann, der uns schon viele Liebesgaben hat überweisen lassen und seine alten Leidensgefährten unterstützt.
Ich schicke diesen Brief durch einen Heimkehrer mit, da die hiesige Zensur einen solchen Brief nicht passieren lässt. Wir haben wenig Hoffnung auf baldige Begnadigung. Ich bin durchaus nicht mehr ein deutscher Gefühlsesel, aber Weihnachten wieder hinter Gittern feiern, gefällt mir nicht. Will mal zusehen, ob ich nicht auf ein Arbeitskommando als Dolmetscher kommen kann, um dann nochmal einen Versuch zu machen. Am 3.5.20 hat man mir bei so einer Gelegenheit 2 Löcher beigebracht und glaube ich darum, daß man mich als Ausreißer nicht so leicht wieder zur Arbeit schickt, sondern lieber hier im Zuchthaus behält. Will für heute schließen und verbleibe mit treudeutschen Grüßen
Ihr
gez. W. Heikhaus Nr. 3301
Obersteuermannsmaat L. 49.
<Capotimoniere>1
1Fol. 27r, hds. eingefügt von Pacelli.
Empfohlene Zitierweise
Heikhaus, W. an Overbeck, Else vom 05. November 1920, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 3810, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/3810. Letzter Zugriff am: 09.05.2024.
Online seit 14.05.2013.