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                        Online seit 24.03.2010, letzte Änderung am 10.03.2014. 
                    
    Dokument-Nr. 4376
Die Reformationsfeier in Berlin. [Berlin], 31. Oktober 1917
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 Zwei akzidentelle Momente haben zusammengewirkt, um
        den protestantischen Gedenktag der 400 jährigen Wiederkehr des Reformationstages in Berlin
        vorübergehen zu lassen wie jeden anderen Werktag. Zunächst die Witterung, die bei allen
        derartigen Gelegenheiten eine große Rolle zu spielen pflegt. Der Tag fing nass und kalt an,
        und den ganzen Tag hing ein schwerer grauer Regenhimmel über der Reichshauptstadt. Dann
        nimmt die Kanzlerkrise die Gemüter gefangen, und dies politische Interesse beschäftigt
        augenblicklich die öffentliche Meinung der Reichshauptstadt in einem Masse, dass daneben
        nichts anderes Geltung hat. So bietet sich dem, der heute die Strassen Berlins
        durchwanderte, das alltägliche Bild der Stadt, in der, als dem Gehirn Deutschlands, als dem
        Zentrum der politischen und militärischen Kriegsführung, fieberhaft gearbeitet wird. Die
        Strassen haben nichts von einem sonn- oder festtäglichen Anstrich, sowohl die Passanten
        geben das Bild eines gewöhnlichen Arbeitstages, als auch weisen die Privat- und öffentlichen
        Gebäude keinerlei Flaggenschmuck auf, wie das sonst in Berlin bei allen Gelegenheiten der
        Fall ist, wo nur irgend ein Anlass vorliegt. Wenn man im Laufe der Kriegsjahre im Hinblick
        auf das bevorstehende Reformationsfest in katholischen und evangelischen Blättern
        gelegentlich den Vorschlag gemacht hatte, auch diesen Anlass zu einer Polemik in den
        konfessionellen Burgfrieden mithineinzubeziehen, und entsprechende, allerdings
        unverbindliche gegenseitige Versicherungen in der Presse auch gegeben worden waren, so wäre
        dies eigentlich gar nicht notwendig gewesen, denn soviel sich beurteilen lässt, hätte die
        Reformationsfeier auch ohnedies keinen anderen Verlauf genommen, wie es tatsächlich
        geschehen ist. In Berlin wenigstens – und Berlin ist in diesen Dingen symptomatisch für das
        Reich – nahm die Öffentlichkeit keinerlei Notiz von dem protestantischen Gedenktag, und
        nichts verriet ein Bewusstsein, als ob heute ein besonderer Tag gewesen wäre. Das liegt
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türlich in den Kriegsverhältnissen begründet, die das
        Interesse der Bevölkerung auf ganz andere Dinge lenken als auf einen protestantischen
        Gedenktag, und sei es auch die 400 jährige Wiederkehr des Geburtstages der Reformation.
        Weiter spielt hier eine Rolle die Interessenlosigkeit weiter Volkskreise, die nur dem Namen
        nach protestantisch sind. Wenn wirklich der heutige protestantische Gedenktag im Mittelpunkt
        des Interesses aller derjenigen, die sich protestantisch nennen, stände, so hätte auch ein
        noch so fester konfessioneller Burgfriede protestantische Federn nicht an Vorstößen in den
        Blättern hindern können. Das ist aber nicht geschehen. Einige Berliner Blätter bringen zwar
        einen besonderen Artikel, aber diese unterscheiden sich nach Inhalt und Form in keiner Weise
        von den Aufsätzen, wie sie bei allen historischen Gelegenheiten zu erscheinen pflegen, mit
        anderen Worten, sie sind rein referierend gehalten, stellen das Werk Luthers dar, enthalten
        sich aber von jeder kritischen Betrachtung, kurz, man sucht vergebens nach dem Pathos einer
        besonderen Tendenz. Nimmt man hinzu, dass keine besonderen Festlichkeiten stattgefunden
        haben, wenigstens keine öffentlichen, so vervollständigt sich der Eindruck, dass der
        protestantische Gedenktag in der Reichshauptstadt ohne irgend ein Zeichen von Begeisterung
        oder Stimmung vorübergegangen ist. 
    