Dokument-Nr. 4441
Becker, Carl Heinrich an Pacelli, Eugenio
Berlin, 11. Juni 1929

Abschrift!
Euerer Exzellenz
beehre ich mich zu der bei den Verhandlungen über den Abschluss eines Vertrages des Freistaats Preussen mit dem Heiligen Stuhle neuerdings gegebenen Anregung wegen Aufnahme einer etwa dem Artikel XXI des Litauischen Konkordats entsprechenden Vorschrift über die Minderheitenseelsorge, zugleich mit Bezug auf das geneigte Schreiben vom 10. Juni d. Js. - N. 41675 - Folgendes ergebenst mitzuteilen.
Das Deutsche Reich wie auch Preussen haben im Wege ihrer Gesetzgebung den Grundsatz weitestgehender staatsbürgerlicher Freiheit durchgeführt.
Die so gewährleistete Freiheit besteht auch auf dem Gebiete der Religionsübung. Die Angehörigen nationaler Minderheiten sind danach in der Pflege ihrer besonderen Minderheitsinteressen auf religiösem Gebiet frei; es ist ihnen unbenommen, sich mit ihren zuständigen kirchlichen Behörden über diese Interessen zu verständigen; ebenso werden die kirchlichen Behörden vom Staate in keiner Weise gehindert, den Interessen der Minderheiten zu entsprechen.
Diesen Interessen wird in Preussen auch von den kirchlichen Behörden tatsächlich durchaus Rechnung getragen. Und dies gilt insbesondere von den für den schlesischen Landesverband des Bundes der Polen in Deutschland in Betracht kommenden Gebieten. So findet nach einer mir vorliegenden, mit möglichster Sorgfalt aufgetellten Liste vom Jahre 1925 von den zweihundert undfünfzehn (215) Pfarreien, die zu dem deutsch gebliebenen Teil des oberschlesischen Abstimmungsgebiets gehören, und die im wesentlichen noch heute
50v
zutrifft, in 174 Pfarreien, also zu mehr als 4/5, der sonntägliche Hauptgottesdienst mit Predigt in der polnischen Sprache und in 5 Pfarreien überwiegend in mährischer Sprache statt, während er in den übrigen 36 Pfarreien in deutscher und polnischer Sprache wechselt. Hinsichtlich der Sprache im Beicht- und Kommunionunterricht ist ausschliesslich der Wille der Eltern massgebend. Dies lässt erkennen, dass der [sic] Minderheit jede mögliche Berücksichtigung findet und insbesondere ihre Sprache vorzugsweise gepflegt wird.
Die von dem schlesischen Landesverbande des Polenbundes in seiner durch die Presse verbreiteten Entschliesslung aufgestellte Behauptung, dass in den letzten Jahren erhebliche Aenderungen zu Ungunsten der polnischen Sprache eingetreten seien, ist nach meinen Informationen unrichtig. Vielmehr lassen sich die kirchlichen Behörden von dem Grundsatz leiten, den zu Gunsten des polnischen Volkstums bestehenden Zustand aufrechtzuerhalten und nur in dringenden seelsorglichen Interesse Aenderungen zuzulassen, alsdann aber auch nur unter tunlichster Schonung der Interessen dieses Volkstums und nur, soweit sie friedlich durchführbar sind. In den wenigen Fällen, in denen in der Zwischenzeit eine solche Aenderung eingetreten ist, handelte es sich lediglich um ein Entgegenkommen gegenüber einer örtlichen Minderheit; nach Mitteilung der kirchlichen Behörde sind in keinem Falle Beschwerden erhoben worden.
Ein Anlass, eine Einwirkung auf die Entwicklung dieser innerkirchlichen Verhältnisse im Wege vertraglicher Regelung in Erwägung zu nehmen, scheint hiernach der Preussischen Staatsregierung nicht vorzuliegen.
Wie sehr im übrigen die Preussische Staatsregierung die kulturellen Interessen der Minderheit zu vertreten bereit ist, glaube ich nach den hierzu wiederholt grundsätzlich eingenommenen Stellung [sic], insbesondere
51r
auch der Euerer Exzellenz bekannten neuerdings erlassenen Minderheitenschulordnung, nicht besonders versichern zu brauchen.
Genehmigen Euere Exzellenz den Ausdruck meiner vollkommenen Hochschätzung, mit der ich die Ehre habe zu zeichnen als
Ihr sehr ergebener
(gez.) Becker
Empfohlene Zitierweise
Becker, Carl Heinrich an Pacelli, Eugenio vom 11. Juni 1929, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 4441, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/4441. Letzter Zugriff am: 28.04.2024.
Online seit 20.01.2020.