Dokument-Nr. 4468
Schulte, Karl Joseph an Pacelli, Eugenio
Köln, 05. März 1923

Euerer Exzellenz
danke ich ganz ergebenst für die unter dem 27. v. M. gütigst übersandte Abschrift eines Schreibens Seiner Eminenz des hochwürdigsten Herrn Kardinalstaatssekretärs betr. die Stellungnahme des Heiligen Stuhles zu dem Einbruch der Franzosen und Belgier in das Ruhrkohlenrevier. Von Euerer Exzellenz gebeten, meine Meinung über eine eventuelle Veröffentlichung zu äußern, will ich dies mit aller Reverenz gegen den Heiligen Stuhl, aber auch, um der Sache der Gerechtigkeit wirklich zu dienen, in aller Offenheit tun. Vielleicht ist auch eine offene Darlegung dessen, was man über die Stellungnahme des Heiligen Stuhles zu hören bekommt, Euerer Exzellenz willkommener als ein Vorschlag für eine gewundene und verklausulierte Apologie dieser Stellungnahme. Daß ich nur in diesem vertraulichen Briefe die Haltung des Heiligen Stuhles kritisiere, nicht aber bei irgend einer sonstigen Gelegenheit, brauche ich wohl kaum hervorzuheben.
Nun zur Sache:
Daß man auf Grund des Versailler Vertrages und speziell auch des § 18, Anlage 2, Teil 8 dieses Vertrages so ziemlich
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alles, was die Franzosen und Belgier an Maßnahmen gegen Deutschland für geboten erachten, rechtfertigen kann, gebe ich ohne Einschränkung zu. Ob aber die Unsittlichkeit des Zwangsvertrages und speziell des angezogenen Paragraphen damit auch vor Gott und vor der Welt gerechtfertigt ist?
Es steht unbestreitbar fest, daß Deutschland vom 11. November 1918 bis zum 30. September 1922 in Erfüllung des Versailler Vertrages Leistungen im Werte von 100 Milliarden Goldmark hingegeben hat. Und gerade vor dem Einbruch der Franzosen und Belgier war Deutschland im Begriff, wie alle Welt weiß, einen neuen Reparationsplan zur Erfüllung jenes Vertrages vorzulegen, einen Plan, bei dem unser Volk sich so schwer belastete, daß es sehr ernsten und tiefer sehenden deutschen Autoritäten schwer wurde, an die Erfüllbarkeit desselben zu glauben. Kann man angesichts dieser Tatsachen den Franzosen und Belgiern recht geben oder zu ihrem kriegerischen Einbruch schweigen, wenn sie wegen der im Vergleich zum Ganzen geringfügigen Rückstände in den Leistungen konstruieren, daß Deutschland "vorsätzlich seinen Verpflichtungen nicht nachkommt"?
Was man dem Heiligen Stuhl in Deutschland so sehr verdenkt, ist hauptsächlich, daß er die gegenwärtige unhaltbare Situation nicht offiziell benutzt, um die evidente Unmoral des Versailler Vertrages hervorzuheben. Dieser Vertrag ist doch, was dem Heiligen Stuhl wohlbekannt ist, einem in Revolution befindlichen, jeder Ordnung und Autorität und jedes eigenen
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Willens völlig entbehrenden Deutschland von den Siegern abgezwungen; auf dem erzwungenen und darum moralisch wertlosen Zugeständnis der Alleinschuld Deutschlands ist der Vertrag mit seinen diabolischen Bestimmungen aufgebaut. Protestantischerseits bekommt man zu hören, daß der Heilige Stuhl, wenn er gegen die Unsittlichkeit des Versailler Vertrages nicht förmlichen und ausdrücklichen Protest erhebe, an dem Unheil, das er in sich berge und im Gefolge habe, mitschuldig werde.
Aber selbst zugegeben, der Heilige Stuhl vermöge und brauche gegen die auf den Versailler Vertrag sich stützende Invasion nichts zu sagen, könnte er dann doch nicht wenigstens gegen den Modus der Invasion, gegen die Brutalitäten und Grausamkeiten mitten im Frieden, unter denen so viele mir und den übrigen Bischöfen persönlich bekannte, brave und gewissenhafte Männer, in zahlreichen Fällen auch deren Frauen und Kinder (Säuglinge und Greisinnen nicht ausgenommen) leiden müssen, mit flammender Entrüstung auftreten? Will sich auch der Heilige Stuhl dem Versailler Vertrage gegenüber offiziell neutral stellen, so wird er doch nicht neutral bleiben können, wenn dieser Vertrag in einer Weise zur Durchführung gebracht wird, über die die Welt sich entsetzt. Es erweckt, was ich bei dieser Gelegenheit vielleicht sagen darf, mehr und mehr Unwillen, daß der Osservatore Romano deutsch orientierte Meldungen über die Invasion nur sehr selten und dann noch in abgeschwächter Form bringt, dagegen sich um so mehr auf die Havas-Meldungen ein-
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stellt. Ich hatte in der vorigen Woche mit den hochw. Herren Bischöfen von Münster und Paderborn wegen der Zustände im Einbruchsgebiet eine Zusammenkunft. Wieder und wieder kam die Rede darauf, in welch peinliche Lage wir Bischöfe kommen, wenn der Heilige Stuhl in seiner bisherigen Zurückhaltung bleibt, wo doch die gräßlichen Begleiterscheinungen der Invasion weder geleugnet noch verteidigt werden können.
In bekannter treuer Verehrung bin ich
Euerer Excellenz
ehrerbietigst ergebener
C J Card. Schulte,
Erzbischof von Köln.
Empfohlene Zitierweise
Schulte, Karl Joseph an Pacelli, Eugenio vom 05. März 1923, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 4468, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/4468. Letzter Zugriff am: 28.04.2024.
Online seit 24.10.2013.