TEI-P5
Fritz Niedermeyer [sic], geb. am 9. Oktober 1883, ist seit dem 1. Juli 1920
Bürgermeister von Recklinghausen. Unmittelbar nach der Besetzung dieser Stadt wurde der
Oberbürgermeister Dr. Hamm ausgewiesen. N. übernahm infolgedessen die Vertretung
des Oberbürgermeisters. In dieser seiner Eigenschaft hatte er auch die Verhandlungen mit der
Besatzungsbehörde zu führen. Mit Rücksicht auf die Anordnungen der deutschen Regierung
musste er die Befolgung der ihm gegebenen Requisitionsbefehle der Besatzungsbehörde ablehnen
und wurde infolgedessen verhaftet, jedoch gegen Stellung einer Kaution von M. 300.000.-
aus der Untersuchungshaft entlassen. Die aus den Tageszeitungen bekannten Vorfälle im
Stadttheater und auf dem Marktplatz zu Recklinghausen (französische Offiziere sollen
deutsches Publikum, auch Damen, an beiden Stellen mit Reitpeitschen geschlagen haben)
veranlassten ihn, einen Bericht an die deutsche Regierung über diese Vorfälle zu machen.
Eine Abschrift dieses Berichts wurde bei der Aufhebung des Recklinghäuser Polizeipräsidiums
gefunden.
Wegen der Nichtbefolgung von Requisitionsbefehlen und der Abfassung des erwähnten Berichts wurde er vom Polizeigericht der 47. französischen Division in Recklinghausen unter Anklage gestellt und am 29. März 1923 zu 4 Jahren Gefängnis und M. 2.000.000.- Geldstrafe verurteilt. Die Anklage lautete in der Hauptsache auf Nichtausführung militärischer Befehle und
Seine Revision an das Kriegsgericht des Brückenkopfs Düsseldorf wurde verworfen.
N. befindet sich z. Zt. im Amtsgerichtsgefängnis in Recklinghausen, wo er irgend welche Klagen über seine Behandlung, vor allem infolge des Eingriffs des Roten Kreuzes, nicht führen kann.
N. leidet jedoch an allgemeiner Körperschwäche und Blutarmut sowie an einem starken Herzleiden. Sein Zustand hatte sich schon vor seiner Verhaftung mit Rücksicht auf die durch die Besetzung der Stadt unumgänglichen Mehrarbeiten verschlechtert und ist inzwischen durch die wiederholte Verhaftung, durch seine Verurteilung und Gefangenhaltung besorgniserregend geworden. Er befürchtet vor allem, zur weiteren Vollstreckung der Strafe abtransportiert zu werden, etwa nach Zweibrücken. Die Zustände in diesem sowie in den anderen französischen Strafvollstreckungsanstalten sind bekanntlich schlechte. Sein Wunsch ist, wenigstens im Gefängnis in Recklinghausen verbleiben zu können. Mit Rücksicht auf
seinen Zustand wäre allerdings der Erlass der Strafe oder ihre Umwandlung in einfache Ausweisung wohl dringend zu wünschen.
Online since 24-10-2013, last modification 29-09-2014.
Document no. 12771
[Kein Betreff]. [Ohne Ort], before 18 May 1923
Wegen der Nichtbefolgung von Requisitionsbefehlen und der Abfassung des erwähnten Berichts wurde er vom Polizeigericht der 47. französischen Division in Recklinghausen unter Anklage gestellt und am 29. März 1923 zu 4 Jahren Gefängnis und M. 2.000.000.- Geldstrafe verurteilt. Die Anklage lautete in der Hauptsache auf Nichtausführung militärischer Befehle und
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auf Beleidigung
französischer Offiziere sowie Gefährdung der Sicherheit und Würde der Besatzungstruppen. Der
Beweis für die Richtigkeit der in dem Bericht behaupteten Vorgänge wurde für nicht geführt
angesehen. Hierauf ist das hohe Strafmass zurückzuführen, da der erste Punkt der Anklage
allein eine erheblich geringere Gefängnisstrafe, vielleicht nur bis zu einem Jahre, hätte
erwarten lassen.Seine Revision an das Kriegsgericht des Brückenkopfs Düsseldorf wurde verworfen.
N. befindet sich z. Zt. im Amtsgerichtsgefängnis in Recklinghausen, wo er irgend welche Klagen über seine Behandlung, vor allem infolge des Eingriffs des Roten Kreuzes, nicht führen kann.
N. leidet jedoch an allgemeiner Körperschwäche und Blutarmut sowie an einem starken Herzleiden. Sein Zustand hatte sich schon vor seiner Verhaftung mit Rücksicht auf die durch die Besetzung der Stadt unumgänglichen Mehrarbeiten verschlechtert und ist inzwischen durch die wiederholte Verhaftung, durch seine Verurteilung und Gefangenhaltung besorgniserregend geworden. Er befürchtet vor allem, zur weiteren Vollstreckung der Strafe abtransportiert zu werden, etwa nach Zweibrücken. Die Zustände in diesem sowie in den anderen französischen Strafvollstreckungsanstalten sind bekanntlich schlechte. Sein Wunsch ist, wenigstens im Gefängnis in Recklinghausen verbleiben zu können. Mit Rücksicht auf
seinen Zustand wäre allerdings der Erlass der Strafe oder ihre Umwandlung in einfache Ausweisung wohl dringend zu wünschen.