Kulturkampf

Kulturkämpfe gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in mehreren europäischen Staaten, so vor allem in Italien und im Deutschen Reich. Der Kulturkampf zwischen den einzelnen Bundesstaaten des Deutschen Reichs, besonders des protestantisch geprägten Preußens, und der Katholischen Kirche unter Papst Pius IX. hatte Ursachen, die einerseits längerfristig andererseits aktuell begründet waren. Die Vertreter eines deutschen Liberalismus entwickelten einen materialistisch-naturwissenschaftlichen Blick auf die Welt, der mit der religiösen Vorstellung eines Schöpfergottes nicht vereinbar war. Sie projizierten einen Fortschrittsglauben auf den nationalen Staat, demgegenüber die Kirche als mittelalterlich-reaktionär erschien. Der nationale Liberalismus hielt darüber hinaus den katholischen Bevölkerungsteil, der dem antiliberalen "Syllabus errorum" Pius' IX. von 1864 verpflichtet war, für ein Widerstandsnest gegen die nationalen Interessen. In den Augen des Reichskanzlers Otto von Bismarck erhob das Infallibilitätsdogma des I. Vaticanums einen mit dem Staat konkurrierenden Souveränitätsanspruch. Gerade in der zur selben Zeit gegründeten Deutschen Zentrumspartei sah er eine Organisation der dem Reich feindlich gesonnenen katholischen Bevölkerung. Das Konglomerat dieser Ursachen führte zum Erlass der Kulturkampfgesetze seitens mehrerer deutscher Staaten. Stellvertretend seien folgende preußische Gesetze genannt: die Aufhebung der Katholischen Abteilung im Preußischen Kultusministerium 1871, die Abschaffung der geistlichen Schulaufsicht 1872, das Gesetz über die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen 1873 und der Erlass des Brotkorbgesetzes von 1875. Unter den Reichsgesetzen sei verwiesen auf den Erlass des Kanzelparagraphen von 1871, die Ausweisung der Jesuiten 1872 und die Einführung der Zivilehe 1975.
Der Kulturkampf war eine "Modernisierungskrise" und eine der "Kulminationsphasen im langen Prozess der Säkularisierung" (LILL (Hg.), Kulturkampf, S. 10 f.). Er entwickelte sich zu einem weltanschaulichen und politisch-rechtlichen Grundsatzkonflikt. Die Katholiken insistierten auf der Vereinbarkeit von Loyalität gegenüber dem Vaterland und einer katholisch-kirchlichen Gesinnung. Prinzipielle Klärungen des Verhältnisses von Kirche und Staat wurden angestrengt, so z.B. vom Zentrumspolitiker Ludwig Windthorst, der für eine reziprok zugestandene Autonomie beider Seiten eintrat. Die Kulturkampfgesetzgebung führte zu einem stärkeren Zusammenhalt unter dem katholischen Kirchenvolk, das vorwiegend passiven Widerstand leistete, Hilfsbedürftige in den eigenen Reihen unterstützte und durch ein intensiviertes Pressewesen sowie die Gründung von Vereinen (beispielsweise des Augustinus-Verein oder der Görres-Gesellschaft) die eigene Identität stärkte.
Ende der 70er Jahre nahm Bismarck Verhandlungen mit Leo XIII. auf, als er eine aufkommende vereinigte Opposition von Zentrumspartei, Fortschrittspartei, Polen und Welfen neben der sozialistischen Gefahr vorhersah und zudem Bündnisverhandlungen mit den mehrheitlich katholischen Mächten Österreich und Italien anstrebte. Nach den Milderungsgesetzen zu Beginn der 80er Jahre wurde durch Verhandlungen bis zu den Friedensgesetzen von 1886/87 eine Beilegung des Kulturkampfes erreicht. Die Anzeigepflicht von Kirchenaustritten vor den Gerichten, die Zivilehe, die staatliche Schulaufsicht, die Beseitigung der kirchlichen Freiheitsrechte aus der preußischen Verfassung und das Jesuitengesetz blieben bis 1917 in Kraft. Der Kanzelparagraph noch darüber hinaus.
Quellen
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Literatur
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Empfohlene Zitierweise
Kulturkampf, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Schlagwort Nr. 11070, URL: www.pacelli-edition.de/Schlagwort/11070. Letzter Zugriff am: 18.04.2024.
Online seit 02.03.2011, letzte Änderung am 25.02.2019.
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