Vermittlertätigkeit des Heiligen Stuhls in Reparationsfragen zwischen dem Deutschen Reich und USA im März/April 1921

Auf der Londoner Konferenz vom 1. bis 7. März 1921 lehnte die Reichsregierung unter Kanzler Constantin Fehrenbach den alliierten Reparationsplan ab. Daraufhin wurden am 8. März Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort von der Entente besetzt sowie des Rheinland aus dem deutschen Zollgebiet herausgelöst. Das Reich strebte eine Vermittlungstätigkeit des Heiligen Stuhls bei den USA an, mit denen es nicht in direkten Kontakt treten konnte, da beide Staaten sich offiziell noch im Kriegszustand befanden, weil die USA den Vertrag von Versailles nicht unterzeichnet hatten. Der Heilige Stuhl, der von den Versailler Verhandlungen ausgeschlossen gewesen war, sah in einer Vermittlerrolle die Möglichkeit, Einfluss auf die internationale Politik zu gewinnen.
Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri erreichte bei der US-Regierung, dass das Reich seine Vorschläge zu den Reparationsleistungen übersenden könne und legte der Reichsregierung einen entsprechenden Vierpunkteplan vor, der inspiriert war von den Ideen des berühmten britischen Ökonomen John Maynard Keynes: Das Reich sollte sofort 50 Milliarden Goldmark an Reparationen zahlen. Das Geld sollte es durch eine Umschuldung der Kriegskredite, die die USA den Alliierten gewährt hatten, erhalten. Das Reich sollte den USA, die von der Umschuldung den Vorteil hätten, nur noch einen Schuldner zu haben, als Sicherheit die Kontrolle über die Häfen, Eisenbahnen, Zölle und Rohstoffvorkommen bieten. Das Reich könne einen Teil der Schulden auch in Naturalien zahlen, durch die Hilfe beim Wiederaufbau ableisten oder in Bargeld bezahlen. Einzelfragen sollten bei weiteren Verhandlungen gelöst werden.
Das Reich legte Gasparri durch den deutschen Vatikanbotschafter Diego von Bergen mit Verzögerung einen weiter gefassten Plan vor. Als die Germania am 14. April berichtete, dass eine neutrale Macht zugunsten des Reichs bei den USA vermittelte und die französische Presse zu Recht den Heiligen Stuhl in den Blick nahm, sah sich Gasparri gezwungen, sein Vermittlungsangebot zurückzuziehen, um Frankreich, mit dem der Heilige Stuhl im Begriff stand, die diplomatischen Beziehungen wieder aufzunehmen, nicht zu verärgern. Am 24. April wies der Osservatore Romano zurück, dass der Heilige Stuhl in die Mediation verwickelt gewesen sei, fragte aber auch, was daran auszusetzen wäre, wenn er es doch gewesen wäre. Durch die Indiskretion auf deutscher Seite, hinter der sowohl der spätere Reichskanzler Joseph Wirth als auch Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns vermutet wurden, stieß das Reich den Heiligen Stuhl, eine der wenigen europäischen Mächte, die ihm wohl gesonnen waren, vor den Kopf. Daraufhin musste es direkt mit den USA in Kontakt treten, was letztlich erfolglos blieb. Mit dem "Londoner Ultimatum" vom 5. Mai 1921 zwangen die Alliierten das Reich zur Annahme ihrer Reparationsforderungen, das Kabinett Constantin Fehrenbachs trat bereits vor Eintreffen der alliierten Note aus Protest am 4. Mai zurück.
Analyse
Gasparri war der Ansicht, mit seinem Plan zur Lösung der Reparationsfrage das "Ei des Kolumbus" gefunden zu haben (Dokument Nr. 5472). Die Gründe für das Scheitern sah er im Mai 1921 ausschließlich bei der Reichsregierung. Zuerst habe die deutsche Seite für die Beantwortung seiner Vorschläge "mehrere Wochen (es scheint unglaublich!) kostbarster Zeit" durch "unnötige Besuche und Ferien" verstreichen lassen. Dann seien die Gegenvorschläge "so lang und konfus" gewesen, dass er sie nicht an die USA habe übermitteln können. Schließlich habe es ihm die Indiskretion in Berlin unmöglich gemacht, weiter bei den USA zu vermitteln, wodurch er den "Zorn" Frankreichs auf den Heiligen Stuhl gezogen hätte (Dokument Nr. 5470). Letztlich erschwere auch die öffentliche Auseinandersetzung zwischen dem ehemaligen Reichskanzler Fehrenbach und dem Zentrumspolitiker Matthias Erzberger über die gescheiterte vatikanische Vermittlungsposition eine zukünftige Intervention des Heiligen Stuhls zugunsten des Reichs (Dokument Nr. 5471).
Gasparri informierte Pacelli nicht über seine Verhandlungen, die er über von Bergen mit der Reichsregierung führte. Bei dem Plan handelte es sich um seine eigene Idee, deren Umsetzung der Kardinalstaatssekretär offensichtlich nicht dem Berliner Nuntius überlassen wollte. Das hatte allerdings zur Konsequenz, dass Pacelli im Gespräch mit Reichskanzler Fehrenbach, der ihn auf das Thema ansprach, bloßgestellt wurde und lediglich ausweichend antworten konnte ( Dokument Nr. 11807). Im Hintergrund schwelte zwischen dem Berliner Nuntius und dem vatikanischen Chefdiplomaten der Konflikt um die Frage, ob ein Bayernkonkordat einem Reichskonkordat vorzuziehen sei. Gasparri befürchtete, mit einem Bayernkonkordat den bayerischen Separatismus zu fördern und damit Frankreich in die Hände zu spielen, das das Reich am liebsten weiter zerschlagen wollte. Pacelli setzte sich letztlich mit seiner Vorstellung, ein Bayernkonkordat als Musterkonkordat für ein mögliches Reichskonkordat abzuschließen, durch (vgl. die Dokumente Nr. 5683, Nr. 5684 und Nr. 3422). Möglicherweise machte der Kardinalstaatssekretär den Nuntius auch für das Scheitern der Friedensinitiative im August 1917, über die im Frühjahr 1921 immer neue Informationen an die Öffentlichkeit gelangten, verantwortlich und wollte ihn deswegen von den Verhandlungen der hohen internationalen Politik fernhalten.
Gasparri war auch nach dem Scheitern von seinem Reparationsplan überzeugt. Kurz vor Weihnachten 1921 startete er einen letzen Versuch, ihn umzusetzen, diesmal aber mit Unterstützung des Berliner NuntiuS. In einem persönlichen Schreiben wies er Pacelli an, bei der neuen Regierung unter Reichskanzler Joseph Wirth anzufragen, wie sein Plan eingeschätzt werde. Falls er durch einen ernsthaften Grund überzeugt werde, würde er ohne Probleme von seinem Vorhaben ablassen, wenn nicht, so habe Deutschland "die größte Dummheit seiner Geschichte" begangen, denn schließlich sei der Plan als "Ei des Kolumbus" bezeichnet worden (Dokument Nr. 5472). Wirth verwies darauf, dass die Reichsregierung den Plan zwar nicht abgelehnt habe, die Zeit für diesen aber noch nicht reif sei ( Dokument Nr. 12143).
Für Gasparris Mentalität und Denkweise ist eine Einfügung, die er seiner Weisung vom Dezember 1921 nachträglich beifügte, von zentraler Bedeutung (Dokument Nr. 5472). Er habe von dem Industriellen und Vertrauten der Römischen Kurie, dem Theodor Freiherr von Cramer-Klett, erfahren, dass es in Bern eine jüdisch-freimaurerische Gesellschaft gebe, die durch ihren Einfluss auf die Berliner Ministerien habe verhindern wollen, dass die wirtschaftliche Situation Europas durch einen Vorschlag des Heiligen Stuhls gelöst werde. Sollte dies der Wahrheit entsprechen, habe Deutschland das bekommen, was es verdiene.
Das Scheitern seines genialen Planes schrieb der wichtigste Diplomat des Heiligen Stuhls somit einer jüdisch-freimaurerischen Verschwörung gegen die katholische Kirche zu. Dabei ignorierte er alle realpolitischen Gründe, die zum Scheitern beigetragen hatten, und fand eine einfach Lösung, durch die er weder die politische Situation des Heiligen Stuhls, der im Konzert der Mächte nur noch eine periphere Rolle spielte und der Lösung der Römischen Frage fern war, noch sich selbst hinterfragen musste. Als verantwortliche Sündenböcke wurden auf der Basis von wenig präzisen und kaum nachprüfbaren Informationen Juden und Freimaurer als traditionelle Gegner der katholischen Sache ausgemacht. In der Debatte um das Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum und dem Holocaust bzw. um den katholischen Antjudaismus oder Antisemitismus müssen solche und andere ähnliche Aussagen hoher kirchlicher Würdenträger eingeordnet werden. So nutzte auch Pacelli die Charakterisierung von Personen als Jude mehrfach mit negativer Konnotation, so bei Kurt Eisner (Dokument Nr. 302), Max Levien (Dokument Nr. 257) oder Georg Gradnauer (Dokument Nr. 3773).
Quellen
Das Auswärtige Amt an Staatssekretär Albert vom 27. März 1921, in: WULF, Peter (Bearb.), Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Das Kabinett Fehrenbach (1920/21), Boppard am Rhein 1972, Nr. 220, S. 612-614, in: www.bundesarchiv.de (Letzter Zugriff am: 09.09.2013).
Der Reichsminister des Auswärtigen Simons (z.Z. Lugano) an den Staatssekretär im Auswärtigen Amt Haniel von Haimhausen vom 3. April 1921, in: Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918-1945, Serie A: 1918 – 1925, Bd. 4: 1. Oktober 1920 bis 30. April 1921, Göttingen 1986, Nr. 223, S. 468-470.
Risposta ad un articolo del "Temps" (Diversion allemande et le Rôle du St. Siège) – 18 Avril 1921, in: Osservatore Romano Nr. 97 vom 24. April 1921
Vermittlungsversuch einer neutralen Macht, in: Germania Nr. 181 vom 14. April 1921.
Zu den Verhandlungen des Heiligen Stuhls mit den USA über die Reparationsfrage zwischen 1921 und 1925 siehe S.RR.SS., AA.EE.SS. Germania, pos. 504, fasc. 11-12.
Das Auswärtige Amt an die Botschaft beim Vatikan vom 7. Februar 1922, in: Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918-1945, Serie A: 1918 – 1925, Bd. 5: 1. Mai 1921 bis 28. Februar 1922, Göttingen 1987, S. 562 f.
Der Botschafter beim Vatikan von Bergen an das auswärtige Amt vom 7. März 1921, in: Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918-1945, Serie A: 1918 – 1925, Bd. 4: 1. Oktober 1920 bis 30. April 1921, Göttingen 1986, S. 398 f.
Literatur
KEYNES, John Maynard, Le conseguenze economiche della pace, Mailand 1920.
KEYNES, John Maynard, The Economic Consequences of the Peace, London 1919.
STEHLIN, Stewart A., Weimar and the Vatican, 1919-1933. German-Vatican diplomatic relations in the interwar year, Princeton, NJ u. a. 1983, S. 74-78.
Empfohlene Zitierweise
Vermittlertätigkeit des Heiligen Stuhls in Reparationsfragen zwischen dem Deutschen Reich und USA im März/April 1921, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Schlagwort Nr. 379, URL: www.pacelli-edition.de/Schlagwort/379. Letzter Zugriff am: 29.03.2024.
Online seit 14.05.2013, letzte Änderung am 20.01.2020.
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