Dokument-Nr. 13876
Ertl, Marie an Pius XI.
Hengersberg, 22. Juni 1924

Heiliger Vater!
Einen freudigeren Auftrag bin ich noch nie nachgekommen als den von Seite unseres hochverehrten Hochw. Herrn Pfarrvorstandes: ich solle die von Eurer Heiligkeit aus Amerika stammenden Liebesgaben in Form von Kleidungstücken, an die dürftigsten Armen der Pfarrei Schwarzach–Hengersberg sortieren und passend verteilen. Eine solche Verteilung ist mir gerade nicht ungewohnt; ich kenne schon bald alle die Dürftigsten durch unsere Frauenvereine, wo wir jedes Jahr, so schwer es auch geht, soviel zusammen betteln, dass wir nicht nur 3 Monate hindurch die winterliche Suppenanstalt, besucht von cà 150-170 Kindern, erhalten, sondern auch zu Weihnachten die Armsten, es waren im vergangenen Jahre 65 Schulkinder, mit Wäsche und Kleidungsstücken aller Art, beschenken und erfreuen konnten.
Die Not ist ja gross, viele hatten kein Hemd, keinen Unterrock, Unterhose oder Strumpf mehr, es langt ja bei dieser grossen Erwerbslosigkeit kaum mehr zum Essen. Und immer wieder wird es noch schwerer, denn bei uns auf dem Lande ist grosser Geldmangel, es haben die Bauern nicht mehr das Nötigste um die Steuern zu bezahlen. Das wächst sich noch schlimm aus, der Landmann ist und bleibt doch der Brotvater. Reiche Bauerstöchter, die sich nicht verheirateten, zogen mit Vorliebe in die nahen Städte um mehr Gelegenheit zu haben, Gott zu dienen, sie sind nun um alles gekommen, viele sogar infolgedessen um ihren Glauben, und wie viele alte Leute gibt es, die als reiche Privatiere galten, sie sind jetzt Bettler.
Das sind traurige Erscheinungen, das macht die Leute irre, ehedem lehrte man uns, dass nur ungerechter Mamon den Fluch auf sich zöge, heute sind diejenigen, die ehrlich gespart, die barmherzig mit dem Nächsten geteilt, die Ehrlichen, die
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Rechtschaffenen, die um Alles gekommen sind, während die Gottlosen, die Schwelger, die Wucherer, die Schwindler, die Prasser ein schönes Leben führen. Wahrlich dieser Punkt und die Not macht viele verrückt. Das sind traurige Erscheinungen und man muss jede Gelegenheit benützen um solche Unglückliche von den Aergsten zu bewahren. – Unter dem Vorbilde Eurer Heiligkeit wollen wir so weiter machen, die Liebe und Barmherzigkeit sollen unser Ansporn sein, dann wird auch der Liebe Gott unser so tief erkranktes bayerisches–deutsches Vaterland wieder gesunden lassen. Eurer Heiligkeit aber ein "Billionenfaches Vergelts Gott"! für die speziell an uns Hengersberger gelangten Kleidungsstücke, die alle im Sinne Eurer Heiligkeit an die Allerbedürftigsten verteilt und mit grossem und gerührten Dank für Eure Heiligkeit in Empfang genommen worden sind; auch für alle die Bestrebungen, die wir die Jahre des Unglücks her mit Freude und Bewunderung verfolgen, die Gebete und Bemühungen für einen Weltfrieden, für unsere Kriegsgefangene u.s.w. wer könnte es aufzählen? Möge Gott Eure Heiligkeit uns noch lange erhalten! – Möge Gott! Seinen Stellvertreter recht bald durch den heiligen Geist unsere Feinde besiegen, indem die Friedensbemühungen vollen Erfolg haben, dass die ganze Welt inne werde, dass der heilige Vater in Rom, durch Güte, Milde und Barmherzigkeit, der Sieger der Welt geworden ist. – Das walte Gott!
In kindlicher Ehrfurcht und treuer Ergebenheit
Euer Heiligkeit
gehorsamste Tochter im Herrn
Marie Ertl, Zollinspektorswitwe.
160r, oberhalb des Textkörpers, vermutlich vom Verfasser, Stempel eingfügt "Kath. Caritasverband F. D. Diözese Passau"
Empfohlene Zitierweise
Ertl, Marie an PiusXI. vom 22. Juni 1924, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 13876, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/13876. Letzter Zugriff am: 03.05.2024.
Online seit 18.09.2015.