Dokument-Nr. 1455

Bertram, Adolf Johannes: Bemerkung zu der Statistik in der Zeitung Germania vom 23. Mai 1917 über Verluste der Katholischen Kirche in der Diözese Breslau., 06. Juni 1917

I.
Sind die Ergebnisse der Statistik zuverlässig?
1. Die Statistik stellt in Rubriken die Prozentsätze zusammen:
a. der Katholiken in der Gesamtbevölkerung (im Prozentsatze);
b. des Verhältnisses der katholischen Schulkinder zur Katholikenzahl;
c. die Art des Schulbesuchs:
1. in katholischen Schulen
2. in Simultanschulen und protestantischen Schulen
3. in höheren Schulen
in prozentualen Ziffern.
Auf Grund dieser Zusammenstellung rechnet sie "Verluste" heraus, die die katholische Kirche erleidet, und nimmt zur Feststellung dieser Verluste ganz bestimmte Zahlen an, zusammen 10.600 auf Grund des Schematismus eines einzigen Jahres; zugleich aber läßt sie klar durchblicken, daß diese Zahlen nicht
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Ergebnis genaurer mathematischer Berechnung, sondern eine Mutmaßung sind.
Ist diese Methode der Statistik zuverlässig?
Vorausgeschickt sei die Bemerkung, daß diese auf Mutmaßung des Statistikers beruhende Zahl sehr erschreckend groß ist, daß aber auch zu beachten ist, daß:
a. die Diözese Breslau allein in ihrem preußischen Anteil über 3 Millionen Katholiken zählt, also 15 bis 18 mal mehr als etwa die Diözese Fulda, Hildesheim, Osnabrück, Mainz. Wenn also in diesen kleinen Diözesen nur 1/18 der Verlustzahl sich finden sollte, ist das sofort erklärlich. Bei Konklusionen aus einer Statistik muß man alle Faktoren beachten.
Neben der absoluten Zahl kommt die relative Zahl mit in Rechnung.
Außerdem ist zu beachten, daß keine Diözese Deutschlands ein so ausgedehntes Diaspora-Gebiet hat wie Breslau, zu der die protestantischen Provinzen Brandenburg und Pommern und die überwiegend protestantischen Teile Schlesien (Mittel-Schlesien und Niederschlesien) gehören. Außer der Zahl müssen alle Verhältnisse des Landes beachtet werden.
b. Ist die Statistik klar? Was meint der Statistiker mit dem Ausdrucke "Verlust katholischer Seelen"?
Der Statistiker hat hier verschiedene Gesichtspunkte nicht klar unterschieden, weil ihm die Materi-
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alien zu einer genaueren Berechnung fehlen.
Als "Verlust an Seelen" können nach dem in Deutschen üblichen Sprachgebrauche nur solche Kinder betrachtet werden, die nach der Konfession der Eltern katholisch werden müßten, aber keinen katholischen Sakramenten-Empfang haben.
Aber solche Verluste an Kinderzahl, die durch geringere Fruchtbarkeit der Ehen entstehen, kann man nicht als "Verlust" der Kirche in diesem Sinne bezeichnen, denn diese Verluste treffen die Nation überhaupt.
c. Solche Kinder, die nicht in katholische Schulen gehen, sind nur dann als "verloren" zu bezeichnen, wenn sie weder katholischen Religionsunterricht, noch katholischen Sakramenten-Empfang haben. Aber alle diejenigen Kinder, die in den nicht-katholischen Schulen katholischen Religionsunterricht erhalten und vom katholischen Pfarrer zur hl. Beichte und Kommunion angenommen werden, kann man nicht "verloren" bezeichnen. Hier sind in der Statistik wesentliche Mängel. Infolgedessen ist das Gesamtergebnis unzuverlässig.
Als ein Beispiel der Unzuverlässigkeit führe ich Folgendes an:
Der Satz: in Breslau sind protestantische Schulen in großer Zahl mit 63 Prozent katholischer Kinder, ist falsch. Die katholischen Kinder im
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Archipresbyteriate Breslau besuchen beinahe alle katholische Schulen.
d. Über die Methode, mit der diese Statistik zu bestimmten Zahlen kommt, ist zu bemerken, daß die Prüfung der Richtigkeit unmöglich ist. Das zeigt folgende Erwägung. Bei jeder statistischen Berechnung ist nötig: 1. eine Grundzahl, 2. ein Prozentsatz und 3. das Resultat. Die Statistik der "Germania" gibt nur an: den Prozentsatz und das Resultat (Verluste angeblich: 4200 + 1200 + 1700 + 1300 + 2000 = 10 600 Seelen). Wie kommt sie zu diesen Zahlen?Es fehlt die Grundzahl, von der die Prozente berechnet werden müssen.
Unklar ist auch die Bezeichnung "Verluste gemäß Schematismus vom Jahre 1912. " Das erweckt den Schein, als seien in einem Jahre diese Verluste entstanden. Die Schulen werden aber 6-7 Jahre von allen Kindern besucht. Die Gesamtzahl der "Verluste" an Schulkindern nach der Schulbesuch-Ziffer umfaßt also die Verluste von 6-7 Jahren. Die Statistik spricht sich zu ungenau in diesen Stücken aus. Daher bietet sie keine sichere Unterlage.
e. Will die Statistik ein wahres Bild der Verluste darbieten, so muß sie folgende Frage stellen:
I. Wie viel Schulkinder entstammen den rein katholischen Ehen?
Und wie viele werden von diesen
a. in der katholischen Religion unterrichtet
und
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zum katholischen Sakramenten-Empfang angenommen?
b. wie viele werden in der protestantischen Religion unterrichtet und zum protestantischen Abendmahl angenommen?
II. Wie viele Schulkinder entstammen aus gemischten Ehen?
Und wie viele von diesen werden
a. katholisch
b. protestantisch,
durch Religionsunterricht und Sakramentenempfang.
Eine Antwort auf diese Fragen würde ein klares Bild der "Verluste" geben. Die Statistik der "Germania" gibt nur ein Bild von Mißständen und daraus einer Mutmaßung über "Verluste".
Der Wert der Statistik der "Germania" Nr. 236 vom 23. Mai 1917 liegt also nicht in der unzuverlässigen Berechnung der "Verluste", sondern liegt in dem Hinweise auf die obwaltenden Mißstände der Diaspora von ganz Deutschland. Diese Mißstände sind insbesondere:
1. Rückgang der Geburten;
2. Mischehen;
3. Mangel an Kirchen und Priestern;
4. übermäßig große Ausdehnung der Diasporagemeinden;
5. Abhängigkeit der ärmeren Katholiken von dem reicheren und einflußreichen protestantischen Bevölkerungsteile;
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6. Mangel an katholischen Schulen;
7. Gefährdung verlassener Kinder.
Einige von diesen Mißständen können wir nicht beseitigen.
Aber manche von diesen Mißständen müssen wir nach besten Kräften zu bekämpfen suchen. Eine Besserung kann nur sehr langsam eintreten; denn die Zeitverhältnisse sind sehr ungünstig. Aber das darf den Eifer nicht schwächen.
Welches sind die Heilmittel?
Zu den oben genannten 7 Mißständen ist Folgendes zu sagen.
II.
Heilmittel.
Zu Nr. 1. Der Kampf gegen Rückgang der Geburten ist vom gesamten deutschen Episkopate sehr energisch aufgenommen.
1913 haben die Bischöfe Preußens ein gemeinsames Hirtenschreiben gegen die Verhinderung der Geburten erlassen, das von allen Kanzeln verlesen und in vielen Tausenden von Exemplaren verbreitet ist. Sogar die Protestanten haben anerkannt, daß dieser Hirtenbrief das Beste ist, was gegen den Neromalthusianismus geschehen ist.
1917 haben die Bischöfe Preußens eine "Instructio de usu et abusu matrimonii" allen Pfarrern und Beichtvätern zugesandt, um dem furchtbaren Laster der Ver-
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hinderung der Geburten entgegenzuwirken. Ein Exemplar dieser Instructio lege ich bei.
Die in dieser Instructio vorgeschriebenen Maßnahmen bilden Gegenstand der Pastoral-Konferenzen des Pfarrklerus. Jeder Neo-Confessarius erhält diese Instructio.
Zu Nr. 2. Den Kampf gegen Mischehen führt die katholische Kirche in Preußen
a. durch Unterricht der älteren Schulkinder über die Gefahren der gemischten Ehen;
b. durch die am II. Sonntage nach Epiphanie von allen Kanzeln zu verlesenden und zu erklärenden Ermahnungen an alle, die in den Ehestand treten wollen;
c. durch Belehrung und Mahnung in Müttervereinen, Jugendvereinen, Arbeitervereinen, Kongregationen;
d. durch besonders ernste Belehrung und Mahnung in Fastenpredigten und bei Volksmissionen;
e. durch prophylaktische Maßnahmen in der Beichte bei Jünglingen und Jungfrauen und deren Eltern.
Zu Nr. 3 Der Mangel an Priestern ist in der Diözese Breslau besonders groß. Es sind vorhanden (Statistik 1915):
a. in der engeren Diözese nur 1173 Seelsorgspriester für 2.662.000 Katholiken;
b. im Delegaturbezirke (Berlin mit Provinz Pommern und dem größeren Teile der Provinz Brandenburg) nur 184 Seelsorgspriester für
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554.000 Katholiken.
Also kommen auf 3.216.000 Seelen 1357 Seelsorgepriester; mithin je 1 Priester auf 2370 Seelen.
Normal dürften aber auf 1 Priester höchstens 1000 Seelen kommen.
Dieser Mangel wird leider nach dem Weltkriege noch zunehmen, weil viele Theologiestudierende im Kriege gefallen sind und viele sich weltlichen Berufen zuwenden werden.
Es wird Sorge der Pfarrer sein, in den katholischen Familien die Liebe zum Priesterstande durch fromme häusliche Erziehung zu wecken.
Außerdem bin ich bemüht, vom Königlichen Ministerium die Zulassung einer größeren Zahl von Ordenspriestern zu erwirken.
Um dem Mangel an Kirchen abzuhelfen, muß der Bonifatius-Verein die Mittel sammeln.
Aus anliegendem Büchlein, das ich verfaßt habe, als ich noch Bischof der kleinen Diözese Hildesheim war, bitte zu ersehen, was in dieser Hinsicht geschehen kann.
Der Heilige Stuhl ist zu bitten, die Förderung des Bonifatius-Vereins immer von neuem den Katholiken von ganz Deutschland warm zu empfehlen.
Zu Nr. 4. Die Ausdehnung der Missionsbezirke ist sehr groß. In vielen Gegenden kommen 50 bis 300 Orte auf eine einzige kleine Kirche. Es ist "Missionsland".
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Um in der Diaspora mehr Kirchen und Missionsstationen zu gründen, hat mein unvergeßlicher Amtsvorgänger Cardinal Georg Kopp eine sehr erfolgreiche Wirksamkeit entfaltet. In jedem Jahre seines langen Episkopats hat er neue Kirchen in Berlin, Breslau und in der Diaspora von Pommern, Brandenburg und Schlesien errichtet und errichten helfen. Diese Gründungen werden nach dem Kriege fortgesetzt werden.
Im Kriege konnte ich nur sehr wenige Gründungen vornehmen, weil es an Bauleuten und Priestern fehlt.
Auch hier muß der Bonifatius-Verein helfen, um von Jahr zu Jahr allmählich bessere Zustände herbeizuführen. Opfersinn, Geduld und Gottvertrauen müssen unsere Organisation beleben. Allerdings dürfen die Schulden nicht zu groß werden. Daher muß man stets prüfen, wo die Not am größten ist.
Zu Nr. 6. Um dem Mangel an katholischen Schulen entgegenzutreten, gibt es 3 Mittel:
a. Gründung von katholischen privaten Schulen.
Das ist sehr schwer. Denn diese müssen ganz von den armen Katholiken unterhalten werden. Die Kosten wachsen, weil die Lehrer viel höhere Gehälter beanspruchen. Der Staat duldet nur geprüfte Lehrer weltlichen Standes; und diese verlangen dieselben Gehälter und Vorteile, die die staatlichen Schulen ihnen in immer größeren Maße bieten. Daher ist es fast unmöglich, neue katholische Privatschulen zu
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gründen.
b. Bemühungen um Einrichtung von neuen katholischen öffentlichen Gemeindeschulden. Sobald die im Gesetze vom 28. Juli 1906 bestimmte Zahl katholischer Kinder an einem Orte während 5 Jahre vorhanden ist, wird das Verfahren auf Errichtung einer besonderen katholischen Schule für diese Kinder eingeleitet. In diesem Punkte ist der Klerus sehr aufmerksam.
c. Die Umwandlung der Simultanschulen in konfessionelle Schulen. Auch das ist sehr schwer, weil es abhängig ist von Willen der politischen Gemeinden und des Staates. Aber es wird nach bestem Können erstrebt werden unter Mithilfe:
1. der "katholischen Organisation zum Schutze der christlichen Schule" (Sitz: Düsseldorf),
2. unter Mithilfe des Zentrums im Preußischen Landtage.
d. Durch katholischen Religionsunterricht der Kinder in protestantischen Schulen. Dieser Unterricht wird überfall erteilt, wo es möglich ist. In jedem Jahre müssen alle Pfarrer an mich berichten, wie viele Kinder ihres Bezirkes protestantische Schulen besuchen, und wer ihnen den katholischen Religionsunterricht erteilt. Das wird vom Bischöflichen Ordinariate kontrolliert auf Grund der genauen Tabellen, die die Erzpriester jedes Jahr über
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die Pfarreien jedes Archipresbyterates aufstellen.
Zu Nr. 7.
Um gefährdete Kinder zu retten, bestehen die sogenannten "Communikanten-Anstalten" an verschiedenen Orten von Berlin, Provinz Pommern, Provinz Brandenburg und Provinz Schlesien. Hunderte von Kindern, die sonst protestantisch werden würden, werden in diesen Anstalten während mehrerer Jahre auf die erste hl. Communion vorbereitet. Für ein großes Waisenhaus, das katholische Kinder des südlichen Teiles der Diözese retten soll, habe ich schon 1915 und 1916 die Mittel gesammelt. Eine neue Rettungsanstalt ist bei Berlin Anfang 1917 eröffnet. Nach dem Kriege hoffe ich noch mehrere Anstalten gründen, oder vorhandene weiter ausgestalten zu können. Doch können solche Anstalten nur mit Vorsicht gegründet werden, um nicht die Diözese in zu große Schulden zu stürzen.
Wenn im Vorstehenden die äußeren Veranstaltungen genannt sind, die zur Verminderung der Verluste helfen können, so ist nicht übersehen, daß das wichtigste alle Hilfsmittel ein tief religiöser, frommer und seeleneifriger Klerus ist, zu dessen Ausbildung die Arbeit des Clerikal-Seminars, die Anregungen des Bischofs, die regelmäßige Teilnahme an Priester-Exerzitien und an
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monatlicher recollectio ad vivificandum zelum sacerdotalem und die Beratungen auf Pastoral-Konferenzen mithelfen müssen.
Dankbar werden wir jede Belehrung und Anregung und Unterstützung seitens des Heiligen Stuhles aufnehmen, zumal da wir wissen, daß der Heilige Vater großes Vertrauen auf den Eifer des Episkopats und des Klerus der deutschen Diözesen setzt.
Breslau, den 6. Juni 1917
Der Fürstbischof
Adolf.
Empfohlene Zitierweise
Bertram, Adolf Johannes, Bemerkung zu der Statistik in der Zeitung Germania vom 23. Mai 1917 über Verluste der Katholischen Kirche in der Diözese Breslau. vom 06. Juni 1917, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 1455, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/1455. Letzter Zugriff am: 28.04.2024.
Online seit 24.03.2010.