Dokument-Nr. 915

Zentrum und politische Neuordnung, in: Germania, Nr. 544, 21. November 1918
Zentrum und politische Neuordnung.
Die in Berlin anwesenden Mitglieder der Zentrumsfraktion des deutschen Reichstags und der beiden Häuser des Preußischen Landtags erlassen, im Einvernehmen mit leitenden Personen der rheinischen und westfälischen Zentrumsparteien, gemeinsam mit Vertretern der Zentrumspresse, der christlichen Arbeiterorganisationen, des Volksvereins für das katholische Deutschland, Mitgliedern der Bauernvereine und Vertreterinnen der im Zentralrat vereinigten katholischen Frauenbünde folgenden Aufruf! Weltkrieg und Revolution haben das alte Deutschland zertrümmert. In Sturm und Drang wird ein neues geboren. Ein freier sozialer Volksstaat soll es werden, in dem sich alle deutschen Stämme, alle Klassen und Stände, alle Bürger ohne Unterschied des Glaubens und der Parteizugehörigkeit wohlfühlen können. Dieses neue Deutschland zu schaffen, ist Aufgabe des Gesamtvolkes, nicht einer Parteidiktatur. Alle Parteien wollen und müssen dabei sein. Dazu bedürfen aber die alten Parteien einer inneren und äußeren Erneuerung.
Ein neues Zentrum
muß und wird entstehen im Wandel dieser Tage.
Rückhaltloses Bekenntnis zum demokratischen Volksstaat, Bekämpfung jedweder Klassenherrschaft, Ordnung in der Freiheit, offene Absage an den Mammonismus und und Materialismus unserer Tage, Pflege der ideellen Werte, die Volk und Staat erst gesund machen: das sind die fundamentalen Grundsätze seiner Erneuerung als christlich-demokratische Volkspartei. Alle Volksschichten, Männer und Frauen, die zu diesen Grundsätzen sich bekennen und mit dieser Parole in die Wahlen zur Nationalversammlung eintreten wollen, soll das neue Zentrum erfassen. Das Zentrum darf nicht untergehen. Es muß mit neuen Zielen und auf breiterer Grundlage weiterbestehen. Es muß zu neuer Blüte geführt werden.
Die Unterzeichneten unterbreiten für diese politische Um- und Neubildung vorläufig und vorbehaltlich späterer endgültiger Fortsetzung von Namen und Programm durch die neu zu schaffenden Parteiinstanzen folgende
Leitsätze.
I. Außenpolitik.
1. Baldigster Abschluß des Weltfriedens, der Verständigung und Versöhnung der Völker und sofortige Herbeiführung eines Präliminarfriedens.
2.  Regelung der Beziehungen der Völker und Staaten zueinander durch das ewige Recht, nicht durch die Gewalt. Durchführung eines den christlichen Grundsätzen entsprechenden Völkerrechtes.
3. Stiftung eines Völkerbundes mit Gleichberechtigung der kleinen und großen Völker unter Einführung der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit für alle Streitigkeiten. Gegenseitige und gleichzeitige Abrüstung.
4. Schutz der nationalen Minderheiten in allen Staaten.
5. Völlige Erneuerung des auswärtigen Dienstes in persönlicher und fachlicher Hinsicht. Abschaffung der Geheimverträge.
6. Vollkommene, durch völkerrechtliche Bürgschaften gesicherte Unabhängigkeit des Heiligen Stuhles.
7.  Wirtschaftliche Entwicklungsfreiheit und Gleichberechtigung für alle Völker. Freiheit der Meere.
8. Internationale Regelung des Arbeiterrechtes, des Arbeiterschutzes und der Arbeiterversicherung.
Gleiche Maßnahmen für die Angestellten.
9. Schaffung eines den deutschen Bedürfnissen genügenden Kolonialgebietes. Förderung der Erziehung und Christianisierung der Eingeborenen. Beseitigung jeder Form der Sklaverei.
II. Innenpolitik.
A. Verfassung.
1. Schleunige Einberufung der Nationalversammlung.
2. Vereinigung der deutschen Stämme zu einem von starkem Nationalbewußtsein getragenen Volksreich.
3. Wahrung der Eigenart der deutschen Stämme.
4. Gleiches Wahlrecht mit Verhältniswahl und Frauenwahlrecht im Reich, in den Bundesstaaten und in den Gemeinden.
5. Unabhängige, auf dem Vertrauen der Volksvertretung beruhende Volksregierung mit starker Vollzugsgewalt an der Spitze im Reich und in den Bundesstaaten.
6. Schaffung der Verfassung durch die Nationalversammlung.
7. Gleiches Recht aller Volksschichten auf Teilnahme an der Verwaltung aller öffentlichen Angelegenheiten ohne Kastengeist und Klassenbevorzugung.
8. Erhaltung eines unabhängigen, in seiner Lebensstellung gesicherten Berufsbeamtentums.
9. Schutz der politischen Minderheiten.
10. Freiheit der Meinungsäußerung in Wort und Schrift. Versammlungs- und Vereinsfreiheit.
B. Wirtschafts- und Sozialpolitik.
1. Aufbau und Regelung der Volkswirtschaft auf der produktiven Arbeit im Dienste des Gemeinwohls unter grundsätzlicher Erhaltung des Privateigentums auch an Produktionsmitteln. Aufrechterhaltung unserer Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt. ? der privatkapitalistisch ?
Monopole durch gemeinwirtschaftliche Ordnung. Schaffung und Erhaltung eines kräftigen Bauernstandes und Förderung unserer Volksernährung. Regelung und Kontrolle des Warenmarktes der Massenbedarfsgüter nach gesunden und wirtschaftlichen Grundsätzen unter Berücksichtigung der Kaufkraft der Bevölkerung.
2. Schutz und Förderung der einzelnen Erwerbsstände als notwendige Glieder eines gesunden Wirtschaftskörpers. Entschiedene Bevorzugung des Gemeinwohls vor allen Privat- und Standesinteressen. Fortführung der Sozialpolitik für die städtische und ländliche Bevölkerung. Schärfste Bekämpfung jeglichen Wuchers. Erhaltung und Stärkung eines lebenskräftigen Handwerkerstandes. Schutz der berechtigten Interessen der Kaufmannschaft.
3. Gemeinnützige Bodenpolitik. Innere Kolonisation. Durchgreifende Wohnungs- und Siedlungsreform.
4. Grundsätzliche Verteilung der Steuerlast und der Leistungsfähigkeit, schärfste steuerliche Erfassung der hohen Einkommen und großen Vermögen, besonders der Kriegsgewinne und des unverdienten Wertzuwachses.
5. Gewissenhafte Fürsorge für die Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen. Einführung eines neuen Heimstättenrechtes unter besonderer Berücksichtigung der Kriegsteilnehmer.
C. Kulturpolitik
1. Erhaltung und Kräftigung des christlichen Kulturlebens im deutschen Volksleben.
2. Erhaltung und Förderung der deutschen christlichen Familien. Durchgreifende Bevölkerungspolitik. Schutz des Kindes.
3. Erneuerung des Bildungs- und Erziehungswesens im Sinne einer einheitlichen deutschen Kulturpolitik unter Anwendung und Ausnutzung der sittlichen und religiösen Erziehungskräfte. Erhaltung der traditionellen Volksschule. Wahrung des Rechtes der Eltern auf die Kinder.
4. Freie Entfaltung und Wirkungsmöglichkeit für alle. Freie Bahn zum Aufstieg der Tüchtigen aus allen Volksschichten.
5. Heranziehung der Frauen auf allen Gebieten unter Auswertung der weiblichen Eigenart.
6. Gewissensfreiheit, Freiheit der Religionsausübung. Gleiche Berücksichtigung der Angehörigen der verschiedenen Glaubensbekenntnisse auf allen Gebieten. Freiheit der Kirchengesellschaften, der kirchlichen Genossenschaften und Vereine, der katholischen Orden und Kongregationen. Keine gemeinsame Änderung der staatlich-kirchlichen Rechtsverhältnisse. Rücksichtnahme auf die Überzeugung und die rechtlichen Ansprüche der kirchlich gesunden Volksreife.
Wir bitten politische und andere Körperschaften ebensowohl wie Einzelpersonen um Kundgebung ihrer Zustimmung oder um Meinungsäußerung an den Generalsekretär Reichstagsabgeordneten Dr. Pfeiffer, Berlin W 8, Französische Str. 62 II.
Eine deutsche Reichskonferenz.
Berlin, 21. November.
Die Reichsregierung hat die Regierungen der einzelnen deutschen Freistaaten auf telegrafischem Wege zu einer Konferenz eingeladen, die am Montag, den 25. November 1918 im Kongreßsaal des Reichskanzlerhauses stattfinden soll. Gegenstand der Konferenz ist die Besprechung der politischen Lage, die Darlegung der von der Reichsregierung bisher getroffenen Maßnahmen und die Verständigung über das künftige Zusammenwirken zwischen der Reichsleitung und den Regierungen der Einzelstaaten.
Der Bundesrat arbeitet weiter!
Die jetzige Regierung hat die gesetzgebende Gewalt des Reichstages und des Bundesrats bekanntlich nicht anerkannt, sondern erklärt, diese Gewalt sei auf die Arbeiter- und Soldatenräte und die von diese beauftragte Regierung übergegangen. Der Bundesrat hatte nun aber neben seiner Tätigkeit als gesetzgebende Körperschaft eine große Anzahl von Verwaltungsaufgaben. Entsprechend dem Grundsatz der jetzigen Regierung, sämtliche Verwaltungskörper zu erhalten, ist auch an den Bundesrat das Ersuchen gerichtet worden, seine Verwaltungsaufgaben weiter zu erfüllen. Er hat dies zugestanden und arbeitet infolgedessen als Verwaltungskörper weiter, während er als gesetzgebende Körperschaft außer Tätigkeit gesetzt ist.
Für die Nationalversammlung.
Breslau, 21. November.
Der Volksrat von Breslau, Zentralrat für die Provinz Schlesien, hat gestern folgenden von den beiden sozialdemokratischen Fraktionen gestellten Antrag einstimmig angenommen: Der Volksrat von Breslau, zugleich in seiner Eigenschaft als Zentralstelle der Volks- und Arbeiterräte Schlesiens, spricht sich ausdrücklich für eine möglichst baldige Einberufung der konstituierenden Nationalversammlung aus, um auf diesem Wege eine dem Volkswillen entsprechende Verfassung der Deutschen Republik zu schaffen. Der Volksrat lehnt es ab, den Willen gewisser örtlicher Einzelströmungen als maßgebend für die Gestaltung der deutschen Republik anzuerkennen. Diese Entschließung ist im Einverständnis mit dem Zentral-Soldatenrat des sechsten Armeekorps gefaßt. Bei der Reichsregierung laufen von allen Teilen des Heeres Stöße von Telegrammen ein, die den schärfen Einspruch dagegen erheben, daß der Berliner Arbeiter- und Soldatenrat sich anmaße, für das gesamte Reich zu sprechen, ohne daß die heimkehrenden Truppen befragt würden.
Der Kaiser als Privatperson in Holland. Haag, den 21. November. In der gestrigen Sitzung der Zweiten Kammer sagte der Vorsitzende des Ministerrats Ruhs, der deutsche Kaiser sei als Privatperson nach Holland gekommen und betrachte sich als solche. Die ihm gewährte Gastfreundschaft beruhe auf den besten Überlieferungen des holländischen Volkes. Die Regierung werde aber genau darauf achten, daß von der Gastfreundschaft kein Gebrauch gemacht werde, der gegen die Interessen des Landes wäre. Die Regierung habe Ursache darauf zu rechnen, daß das nicht geschehen werde und daß auch der Exkaiser und seine Umgebung dies im eigenen Interesse richtig verstehen werden.
Die englischen Besetzungstruppen der Rheinlande.
London. 20. November. (Reuter.)
Der Kommandant der 4. britischen Armee, die zu den Besatzungstruppen am Rhein gehören wird, General Rawlinson, erließ einen Befehl an seine Truppen, worin er sie auffordert, nach Überschreitung der deutschen Grenze der Welt zu zeigen, daß britische Soldaten nicht gegen Frauen, Kindern und alte schwache Leute Krieg führen. Mackensen in Hermannstadt.
Berlin, 21. November.
Gegenüber anderslautenden Pressemeldungen ist festzustellen, daß Generalfeldmarschall von Mackensen sich bei seinen Truppen in Hermannstadt befindet und dort bleiben wird, bis der Abtransport bewerkstelligt ist. „Beowulf“ in Danzig.
Berlin, 19. November.
Das Küstenpanzerschiff „Beowulf“ ? ? nach Danzig zu gehen und dort weitere ?? ? .
Italiener in Innsbruck.
Wien, 20. November
Laut Meldungen an das Staatsamt für das Heerwesen ist die Stadt Innsbruck von italienischen Truppen besetzt worden. Das Staatsamt für Aeußeres hat gegen diese Besetzung Vorstellungen erhoben.
Empfohlene Zitierweise
Anlage vom 21. November 1918, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 915, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/915. Letzter Zugriff am: 29.04.2024.
Online seit 02.03.2011, letzte Änderung am 24.10.2013.