Pacelli-Punktation I vom März 1920 (Konkordatsverhandlungen mit dem Deutschen Reich)

Der erste Konkordatsentwurf, den Pacelli für die Verhandlungen über ein Reichskonkordat Anfang der Zwanziger Jahre erstellte, wird in der Forschung Pacelli-Punktation I genannt. Diese Punktation beruht auf der Stellungnahme der Fuldaer Bischofskonferenz vom Januar 1920, in der der Episkopat seine Forderungen zur Neuordnung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat nach der Novemberrevolution 1918 formulierte. Die Punktation selbst entstand im März 1920 bei einem Rom-Aufenthalt des Nuntius (Dokument Nr. 10433). Da Pacelli aber erst nach Abschluss eines Bayernkonkordats Verhandlungen über ein Reichskonkordat beginnen wollte, blieb die Pacelli-Punktation I zunächst in der Schublade. Als Reichskanzler Joseph Wirth jedoch Ende 1921 mit Nachdruck versuchte, solche Verhandlungen einzuleiten, und Pacelli am 14. November brieflich aufforderte, die Vorstellungen des Heiligen Stuhls schriftlich zu fixieren, benutzte der Nuntius die Punktation I als Grundlage der Punktation II, die er sogleich dem Reichskanzler zukommen ließ.
Im Folgenden geben wir den Text der Pacelli-Punktation I wieder:
"I. Die Kirche hat das volle und freie Besetzungsrecht für alle Kirchenämter und Benefizien ohne Mitwirkung des Staates oder der Gemeinden. Das Privatpatronatsrecht bleibt aufrecht erhalten, soweit es nach den kanonischen Bestimmungen noch zu Recht besteht.
II. Die Errichtung, Leitung und Verwaltung der Priester- und Knabenseminarien sowie der Konvikte steht unabhängig von der Zivilgewalt ausschließlich der kirchlichen Behörde zu. Die mit den Knabenseminarien verbundenen Gymnasien haben den Charakter der öffentlichen Gymnasien.
III. Die Kirche übt ihre Gewalt aus unabhängig von der Zivilbehörde.
Insbesondere ist sie unabhängig und frei:
1.) in der Darlegung und in der Verkündigung der katholischen Lehre;
2.) in der Abhaltung des Gottesdienstes und sonstiger religiöser Übungen wie Prozessionen, Wallfahrten, Volksmissionen, geistliche Exerzitien u.s.w.;
3.) in der Spendung der Sakramente und Sakramentalien, einschließlich der Einsegnung der Ehe, welche auch vor dem Zivilakte stattfinden kann;
4.) in der Ausübung der kirchlichen Gesetzgebungsgewalt, in der Einrichtung der kirchlichen Verwaltung, in der Ausübung der kirchlichen Gerichtsbarkeit und Strafgewalt;
5.) in der Errichtung, Änderung und Aufhebung der kirchlichen Ämter, Benefizien und Amtsbezirke;
6.) in Erwerb, Verwaltung und Verwendung kirchlichen Vermögens;
7.) in der Errichtung religiöser Orden und Vereine;
8.) in der Ausübung der kirchlichen Caritas
9.) in der Einführung und Unterhaltung eigener Begräbnisstätten.
IV. Der Staat anerkennt die katholische Kirche und ihre Institute (Bischofssitze, Kapitel, Seminare, Pfarreien u.s.w.) als Körperschaften und juristische Personen des öffentlichen Rechtes mit den daraus sich ergebenden Rechten.
Die kirchlichen Amtspersonen genießen grundsätzlich die den öffentlichen Beamten zustehenden Vorrechte. Sie leisten dem Staate keinen Diensteid.
V. Der Staat wird seinen auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden vermögensrechtlichen Verpflichtungen gegen die katholische Kirche auch fernerhin nachkommen. Als solche Rechtstitel werden unter anderen ausdrücklich aufgeführt das Herkommen, die Pflichten, welche auf den ehemals vom Staat säkularisierten Gütern liegen, die Patrimonialrechte der Kirche, die selbst vom Reichsdeputationshauptschluß anerkannt wurden, die Zircumskriptionsbullen und die Leistungen, die auf späteren Gesetzen und Übereinkommen fußen. Bei der Ablösung aller dieser Leistungen wird der Staat dem veränderten Geldwert und den tatsächlichen Bedürfnissen Rechnung tragen und insbesondere auch die sogenannten fakultativen und widerruflichen Staatszuschüsse einbeziehen. Überdies werden auch jene in den Zircumskriptionsbullen festgelegten Verpflichtungen berücksichtigt, die der Staat bisher nicht oder nur ungenügend erfüllt hat. Die Ablösung muß in einer Form geschehen, die eine baldige Entwertung ausschließt. Privatrechtliche Verpflichtungen bleiben aufrecht erhalten und werden nicht abgelöst.
VI. Die staatlichen Gebäude und Grundstücke, die zur Zeit unmittelbar oder mittelbar kirchlichen Zwecken dienen, werden der Kirche kostenlos zur dauernden und uneingeschränkten Benützung überlassen. Der Staat wird der ihm obliegenden Baupflicht im bisherigen Umfang auch fernerhin nachkommen und im Bedarfsfalle auch für notwendige Neubauten aufkommen.
VII. Der Kirche bleiben für immer ihr Eigentum und ihre Vermögensrechte gesichert. Sie verfügt frei über ihr Vermögen.
VIII. Die Kirche hat das Recht, Steuern zu erheben. Der Staat wird diese Steuern gemeinsam mit den staatlichen gegen eine mäßige Vergütung einheben.
IX. Für das Heer, die Straf-, Fürsorge- und Pflegeanstalten sowie die Krankenhäuser und sonstigen öffentlichen Anstalten wird eine regelmäßige Seelsorge eingerichtet, für die der Diözesanbischof eine entsprechende Anzahl von Geistlichen anstellt. Soweit es sich um vom Staate abhängige Anstalten handelt, sorgt dieser für die Bereitstellung der für Seelsorge und Gottesdienst notwendigen Mittel.
X. Der Staat verpflichtet sich, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit erlassenen Anordnungen der kirchlichen Behörden anzuerkennen und zu ihrer Ausführung im Bedarfsfalle seine Unterstützung zu gewähren, wenn dieselbe erbeten wird.
XI. In Ausübung ihres Amtes genießen die Geistlichen den Schutz des Staates, der Verunglimpfungen ihrer Person und Störungen ihrer Amtshandlungen nicht zuläßt und etwaige Vergehen ahndet.
Die Kleriker und Religiosen sind sowohl im Frieden als im Kriegsfall von jedweder Militärdienstpflicht frei; ebenso sind sie frei von der Übernahme des Geschworenen- und Schöffenamtes bei den Staatsgerichten.
XII. Orden und religiöse Kongregationen können frei gegründet werden und unterliegen vonseiten des Staates keiner Beschränkung in Bezug auf ihre Niederlassungen, die Zahl und die Eigenschaften ihrer Mitglieder. Soweit sie bisher die Rechte einer öffentlichen Körperschaft genossen haben, bleiben ihnen dieselben gewahrt; die übrigen erlangen bezw. behalten die Rechtsfähigkeit oder die Rechte einer öffentlichen Körperschaft nach den für alle Bürger oder Gesellschaften geltenden gesetzlichen Bestimmungen. Ihr Eigentum und ihre anderen Rechte werden ihnen gewährleistet.
Sie verwalten ihr Vermögen und ordnen ihre Angelegenheiten unabhängig vom Staate.
Ihre Tätigkeit in den gottesdienstlichen Verrichtungen, in der Seelsorge, im Unterricht, in der Pflege der Kranken und in den Werken der Caritas und der Wohltätigkeit ist ganz und gar frei.
XIII. Der Staat sorgt für eine genügende Anzahl von katholischen Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalten. Die Lehrer und Lehrerinnen, welche an katholischen Schulen angestellt werden wollen, müssen diese Anstalten besuchen und während ihrer ganzen Ausbildungszeit am Religionsunterricht teilnehmen. Zur Beurteilung der Eignung für die Erteilung des Religionsunterrichtes bezw. Anstellung an konfessionellen Schulen wird der Kirche das Recht eingeräumt, an der Prüfung der Lehramtskandidaten mitzuwirken bezw. Kommissare zu entsenden.
Die privaten Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalten sind den staatlichen gleich gestellt, wenn sie die gleichen Vorbedingungen erfüllen.
Betreffs der Zulassung zum Lehramte und der Anstellung an Volksschulen oder mittleren und höheren Lehranstalten gelten für Angehörige von Orden oder religiösen Kongregationen keine anderen Vorbedingungen als für Laien.
XIV. In allen Gemeinden, in denen die Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten es beantragen, müssen katholische Volksschulen errichtet werden, insoweit eine genügende Schülerzahl dafür angemeldet ist.
XV. In den Volksschulen, Fortbildungsschulen, Mittelschulen, Gymnasien und anderen mittleren und höheren Lehranstalten bleibt der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach.
Die Erteilung und Leitung des Religionsunterrichtes in allen Schulen steht der Kirche und den von ihr Beauftragten zu.
Die Religionslehrer an den mittleren und höheren Lehranstalten werden auf Vorschlag des Bischofs von der Regierung ernannt, die auch die notwendigen Mittel dafür bereitstellt. Jene, welche der Diözesanbischof auf Grund ihrer Lehre oder ihrer moralischen Führung zur Fortführung ihres Lehramtes für unfähig oder ungeeignet hält, werden ihres Amtes enthoben.
Der Staat wird dafür Sorge tragen, daß an konfessionellen Schulen nur solche Lehrer angestellt werden, welche nach dem Urteile des Bischofs geeignet und willens sind, den Religionsunterricht zu erteilen.
Die Lehrer, welche an konfessionellen Schulen die Erteilung des Religionsunterrichtes ablehnen oder nachweislich von der Übereinstimmung mit der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre abweichen, sind auf Beschwerde der Kirche oder der Erziehungsberechtigten im Interesse des Dienstes zu versetzen.
XVI. Die Aufsicht über den Religionsunterricht und das religiös-sittliche Leben an den Volks- und Mittelschulen steht der Kirche zu, welche dieselbe durch die von ihr bestellten Organe ausübt. Weiterhin wählt die Kirche im Einvernehmen mit dem Staate die Religionslehrbücher aus.
XVII. Den Schülern der Volksschulen wie der höheren Lehranstalten muß Gelegenheit zur Erfüllung ihrer religiösen Pflichten geboten werden.
XVIII. Orden und religiöse Kongregationen sind unter den allgemeinen gesetzlichen Bedingungen zur Gründung und Führung von Privatschulen berechtigt. Diese Privatschulen geben die gleichen Berechtigungen wie die staatlichen.
XIX. In den Schulverwaltungsorganen erhält die Kirche bezw. Ihre Organe gesetzlich eine stimmberechtigte Vertretung.
Bei Neuordnung der Schulgesetze, bei Staatsschulkonferenzen u[nd] dergl[eichen] werden die Vertreter der Kirche vom Staate zugezogen und gehört.
XX. Alle bisher erlassenen und noch in Kraft befindlichen Gesetze, Verordnungen und Verfügungen, welche den obigen Artikeln entgegenstehen, sind als aufgehoben zu erklären."
Quellen
Gutachten zum Staatskirchenrecht (Auszug) von vor dem 27. Januar 1920, in: HÜRTEN, Heinz (Bearb.), Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1918-1933, Bd. 1: 1918-1925 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte A 51), Paderborn u. a. 2007, Nr. 83, S. 157-179.
Pacelli-Punktation I vom [1. Mai 1920], in: VOLK, Ludwig (Bearb.), Kirchliche Akten über die Reichskonkordatsverhandlungen 1933 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte A 11), Mainz 1969, Nr. *1, S. 277-281.
Pacelli-Punktation II vom [15. November 1921]; Dokument Nr. 7768; in: KÜPPER, Alfons (Bearb.), Staatliche Akten über die Reichskonkordatsverhandlungen 1933 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte A 2), Mainz 1969, Nr. 6, S. 441-447.
Pacelli an Gasparri vom 16. November 1921; Dokument Nr. 10433.
Literatur
Pacelli-Punktation II vom November 1921 (Reichskonkordatsverhandlungen); Schlagwort Nr. 14064.
VOLK, Ludwig, Das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933. Von den Ansätzen in der Weimarer Republik bis zur Ratifizierung am 10. September 1933 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 5), Mainz 1972, S. 6 f. u. 11 f.
Empfohlene Zitierweise
Pacelli-Punktation I vom März 1920 (Konkordatsverhandlungen mit dem Deutschen Reich), in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Schlagwort Nr. 13048, URL: www.pacelli-edition.de/Schlagwort/13048. Letzter Zugriff am: 29.03.2024.
Online seit 31.07.2013, letzte Änderung am 24.10.2013.
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