Besetzung der bischöflichen und erzbischöflichen Stühle in Preußen

Nach der Säkularisation wurde das Verhältnis vom Staat zur katholischen Kirche in der Zirkumskriptionsbulle "De salute animarum" vom 16. Juli 1821 neu geregelt. Darin wurde den preußischen Domkapiteln das Bischofswahlrecht als Ausnahme vom ius commune zugestanden. Das dazugehörige Breve "Quod de fidelium" ergänzte die Durchführungsbestimmungen des Wahlrechts. Es schrieb vor, dass das Domkapitel des erledigten Bistums nur eine dem König genehme Person wählen durfte. Praktisch war es aber häufig so, dass ein königlicher Wahlkommissar den Domherren vor dem Wahlakt dem Staat genehme Kandidaten benannte, sodass nur Scheinwahlen stattfanden. Ab 1840 bürgerte sich das sogenannte "Irische Listenverfahren" ein. Nach ihm hatte das Domkapitel eine Liste mit Kandidaten beim Staat einzureichen, von der der König Namen streichen konnte. Dabei sollte eine ausreichende Anzahl von Personen auf der Liste bestehen bleiben, um dem Kapitel eine tatsächliche Wahl zu ermöglichen. Die so geforderte Freiheit der Domkapitel bei der Bischofswahl bekräftigte Kardinalstaatssekretär Mariano Rampolla in einem Schreiben an die preußischen und oberrheinischen Bischöfe im Jahr 1900.
Der Codex Iuris Canonici von 1917, in dem die kirchlichen Zentralisationsbestrebungen des 19. Jahrhunderts einen juristischen Ausdruck fanden, bestimmte demgegenüber in can. 329 § 2, dass der Papst die Bischöfe frei ernennt, während das Bischofswahlrecht über § 3 nur als Ausnahme vorgesehen war. Nach der Revolution in Deutschland und der Weimarer Reichsverfassung, die in Artikel 137 Absatz 2 der Kirche die Autonomie ihrer Ämterbesetzung zustand, sah der Heilige Stuhl die Möglichkeit, das Bischofwahlrecht der preußischen Domkapitel zu beschneiden und so das Verfahren der Bischofseinsetzungen dem allgemeinen Recht anzupassen. Die Kapitel, der Episkopat und die preußische Regierung versuchten allerdings, ihr Privileg zu verteidigen. Die Regierung und der Heilige Stuhl einigten sich im Kontext der Verhandlungen um das Preußenkonkordat von 1929 auf einen Kompromissmodus, der weiterhin die Bestellung der Bischöfe durch die Kapitelswahl vorsah. Demgemäß reichten bei Erledigung eines Bistums sowohl das jeweilige Domkapitel als auch die preußischen Diözesanbischöfe Listen mit Kandidaten in Rom ein. Der Heilige Stuhl stellte "unter Würdigung" dieser Vorschläge – er war also nicht an sie gebunden – eine Terna auf, aus der das Domkapitel den neuen Bischof zu wählen hatte. Danach vergewissert dieses sich, dass die Staatsregierung keine politischen Bedenken gegen den Erwählten geltend machte, bevor der Heilige Stuhl die Einsetzung vornahm.
Derzeit entsteht am Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte eine Dissertation über die Bischofseinsetzungen in der Weimarer Republik durch Raphael Hülsbömer, der insbesondere die Rolle Eugenio Pacellis in den Besetzungsfällen untersucht und die vatikanischen Dokumente sämtlicher Besetzungsfälle ausführlich auswerten wird.
Quellen
GASPARRI, Pietro (Hg.), Codex Iuris Canonici. Pii X Pontificis Maximi iussu digestus Benedicti Papae XV auctoritate promulgatus, Rom 1917, can. 329, in: www.jgray.org (Letzter Zugriff am: 08.03.2016).
Codex Iuris Senior, can. 329, in: www.catho.org (Letzter Zugriff am: 08.03.2016).
1917 Codex Iuris Canonicis, can. 329, in: www.jgray.org (Letzter Zugriff am: 08.03.2016).
Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Preußen vom 14. Juni 1929, in: HUBER, Ernst Rudolf / HUBER, Wolfgang (Hg.), Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 4: Staat und Kirche in der Zeit der Weimarer Republik, Berlin 21990 ND Darmstadt 2014, Nr. 183, S. 322-328.
De salute animarum, in: MERCATI, Angelo (Hg.), Raccolta di concordati su materie ecclesiastiche tra la Santa Sede e le autorità civili, Bd. 1: 1098-1914, Rom 21954, S. 648-665 [lateinischer Text].
De salute animarum, in: HUBER, Ernst Rudolf / HUBER, Wolfgang (Hg.), Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 1: Staat und Kirche vom Ausgang des alten Reichs bis zum Vorabend der bürgerlichen Revolution, Berlin 21990 ND Darmstadt 2014, Nr. 91, S. 204-221 [deutscher Text].
Die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919, in: HUBER, Ernst Rudolf / HUBER, Wolfgang (Hg.), Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 4: Staat und Kirche in der Zeit der Weimarer Republik, Berlin 21990 ND Darmstadt 2014, Nr. 97, S. 128-133.
Quod de Fidelium, in: HUBER, Ernst Rudolf / HUBER, Wolfgang (Hg.), Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 1: Staat und Kirche vom Ausgang des alten Reichs bis zum Vorabend der bürgerlichen Revolution, Berlin 21990 ND Darmstadt 2014, Nr. 92, S. 222-224 [deutscher Text].
Quod de Fidelium, in: MERCATI, Angelo (Hg.), Raccolta di concordati su materie ecclesiastiche tra la Santa Sede e le autorità civili, Bd. 1: 1098-1914, Rom 21954, S. 665 f. [lateinischer Text].
Literatur
BECKER, Hans-Jürgen, Das Problem der Bischofsernennungen in der Kirchengeschichte, in: BRACHER, Karl Dietrich u. a. (Hg.), Staat und Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag, Berlin 1992, S. 255–273, hier 264.
Breve Pius' VII. "Quod de fidelium" vom 16. Juli 1821; Schlagwort Nr. 2092.
Bulle Leos XII. "Ad Dominici gregis custodiam" vom 11. April 1827 und Breve "Re sacra" vom 28. Mai 1827; Schlagwort Nr. 2094.
Bulle Leos XII. "Impensa Romanorum Pontificum" vom 26. März 1824; Schlagwort Nr. 2114.
Bulle Pius' VII. "De salute animarum" vom 16. Juli 1821; Schlagwort Nr. 2089.
Codex Iuris Canonici 1917; Schlagwort Nr. 3000.
FRIEDBERG, Emil, Der Staat und die Bischofswahlen in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Kirche und ihres Verhältnisses zum Staat. Mit Aktenstücken. Das neunzehnte Jahrhundert, Leipzig 1874, ND Aalen 1965.
GATZ, Erwin, Domkapitel und Bischofswahlen in den deutschsprachigen Ländern seit dem 19. Jahrhundert, in: PORTMANN-TINGUELY, Albert (Hg.), Kirche, Staat und katholische Wissenschaft in der Neuzeit. Festschrift für Heribert Raab zum 65. Geburtstag am 16. März 1988, Paderborn 1988, S. 397–409, hier 403–406.
GATZ, Erwin, Die Bischofernennungen in den deutschsprachigen Ländern. Theorie und Praxis seit dem 19. Jahrhundert, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 136 (1988), S. 258–266.
GATZ, Erwin, Domkapitel und Bischofswahlen in Preußen von 1821 bis 1945, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 78 (1983), S. 101–126.
GATZ, Erwin, Zum Ringen um das Bischofswahlrecht in Deutschland vom Ende der Monarchie (1918) bis zum Abschluss des Preußischen Konkordats (1929), in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 100 (2005), S. 97-141.
GOLOMBEK, Dieter, Die politische Vorgeschichte des Preußenkonkordats (1929) (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 4), Mainz 1970.
HARTMANN, Gerhard, Der Bischof. Seine Wahl und Ernennung (Grazer Beiträge zur Theologiegeschichte und kirchlichen Zeitgeschichte 5), Graz 1990, S. 43–46.
HIRSCHFELD, Michael, Die Bischofswahlen im Deutschen Reich 1887-1914. Ein Konflikt zwischen Staat und katholischer Kirche zwischen dem Ende des Kulturkampfes und dem Ersten Weltkrieg, Münster 2012.
Konkordat mit Preußen von 1929; Schlagwort Nr. 5.
LANDERSDORFER, Anton, Die Bestellung der Bischöfe in der Geschichte der katholischen Kirche, in: Münchener Theologische Zeitschrift. Vierteljahresschrift für das Gesamtgebiet der katholischen Theologie 41 (1990), S. 271–290, hier 286.
MÖRSDORF, Klaus, Das neue Besetzungsrecht der bischöflichen Stühle unter besonderer Berücksichtigung des Listenverfahrens (Kölner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 6), Bonn / Köln 1933.
POTZ, Richard, Bischofsernennungen. Stationen, die zum heutigen Zustand geführt haben, in: GRESHAKE, Gisbert (Hg.), Zur Frage der Bischofsernennungen in der römisch-katholischen Kirche, München / Zürich 1991, S. 17–50.
SCHATZ, Klaus, Bischofswahlen. Geschichtliches und Theologisches, in: Stimmen der Zeit 207 (1989), S. 291–307.
STUTZ, Ulrich, Der neueste [neuste] Stand des deutschen Bischofswahlrechtes. Mit Exkursen in das Recht des 18. und 19. Jahrhunderts (Kirchenrechtliche Abhandlungen 58), Stuttgart 1909, ND Amsterdam 1965.
TRIPPEN, Norbert, Das Domkapitel und die Erzbischofswahlen in Köln 1821-1929 (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 1), Köln 1972.
WOLF, Hubert, Die Affäre Sproll. Die Rottenburger Bischofswahl von 1926/27 und ihre Hintergründe, Ostfildern 2009.
Empfohlene Zitierweise
Besetzung der bischöflichen und erzbischöflichen Stühle in Preußen, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Schlagwort Nr. 2091, URL: www.pacelli-edition.de/Schlagwort/2091. Letzter Zugriff am: 28.03.2024.
Online seit 04.06.2012, letzte Änderung am 26.06.2019.
Als PDF anzeigen