Bürgerliche Regierungen auf Reichsebene

Unter bürgerlichen Regierungen sind all jene zu verstehen, die ohne Beteiligung der Sozialdemokraten (MSPD, später SPD) lediglich aus bürgerlichen Parteien gebildet wurden. Zu diesen zählte neben der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), der Zentrumspartei (Z), der Bayerischen Volkspartei (BVP) und der Deutschen Volkspartei (DVP) auch die Deutschnationale Volkspartei (DNVP).
Die erste bürgerliche Regierung der Weimarer Republik kam 1920 zustande. Nachdem die MSPD bei den Reichstagswahlen vom 6. Juni 1920 herbe Verluste zu verzeichnen hatte, sah sie zunächst davon ab, sich erneut an einer Regierung zu beteiligen. Stattdessen wurde eine Koalition aus DDP, Zentrum und DVP unter Konstantin Fehrenbach gebildet, die von der MSPD vor allem aus außenpolitischen Gründen toleriert wurde. Das Kabinett trat bereits am 4. Mai 1921 aus Protest gegen das "Londoner Ultimatum" zurück. Dem Kabinett Fehrenbach folgte noch einmal eine Weimarer Koalition, da die DVP nicht die Verantwortung für die unvermeidbare Annahme des Ultimatums übernehmen wollte.
Die nächste bürgerliche Regierung war keine Koalition im eigentlichen Sinne. Am 22. November 1922 trat das "Kabinett der Persönlichkeiten" des parteilosen konservativen Generaldirektors der Großreederei HAPAG, Wilhelm Cuno, ins Amt, dem neben parteilosen "Fachleuten" auch Politiker von DDP, Zentrum, BVP und DVP angehörten. Da die Koalitionsverhandlungen scheiterten, besaß das Kabinett lediglich das Vertrauen des Reichspräsidenten Friedrich Ebert, der sich von Cunos guten Verbindungen in die USA einen Nutzen für die Lösung der Reparationsfrage versprach. Tatsächlich hatte Cunos Politik aber ruinöse Folgen für das Reich. Er beantwortete die Besetzung des Ruhgebietes durch Frankreich und Belgien mit der Ausrufung des "passiven Widerstandes", der die ohnehin schon galoppierende Inflation weiter antrieb. Das Kabinett Cuno musste am 12. August 1923 zurücktreten und wurde von einer Großen Koalition unter Gustav Stresemann ersetzt.
Nach dem Sturz des zweiten Kabinetts Stresemanns übernahm am 30. November 1923 eine Minderheitenkoalition aus Zentrum, BVP, DDP und DVP unter Wilhelm Marx (Z) die Regierung. Sie wurde zunächst noch von der SPD gestützt. Als Marx' Kabinett bei seinem Kampf gegen die damalige Krise aber zunehmend soziale Errungenschaften kassierte, kündigte die SPD ihre Unterstützung auf. Aus den daraufhin vorgezogenen Reichstagswahlen vom 4. Mai 1924 ging die DNVP als großer Sieger hervor, die SPD und die bürgerlichen Parteien, bis auf das Zentrum, mussten Verluste verkraften. Da die DNVP die Kanzlerschaft forderte, dabei aber unerfüllbare Bedungen stellte, und weil die SPD nach ihrer Wahlniederlage eine erneute Große Koalition ablehnte, wurde wiederum ein bürgerliches Minderheitenkabinett aus DDP, Zentrum und DVP gebildet. Nachdem dieses mit Unterstützung der SPD und von Teilen der DNVP die Verabschiedung des Dawes-Planes durchsetzen konnte, wurde der Reichstag aufgelöst und am 7. Dezember wurden Neuwahlen durchgeführt. Da die bürgerlichen Parteien und vor allem die SPD bei diesen Stimmzuwächse verbuchen konnten, wäre sowohl eine Große Koalition als auch eine bürgerliche Mitte-Rechts-Regierung möglich gewesen. Da die DVP die Zusammenarbeit mit der SPD ablehnte, kam nur letztere in Frage.
Die folgenden vier Kabinette unter dem parteilosen Hans Luther bzw. Wilhelm Marx, die von Januar 1925 bis Juni 1928 regierten, bestanden stets aus Zentrum, BVP sowie DVP und schlossen meist auch die DNVP ein. Während diese Regierungen sozial- und wirtschaftspolitisch einiger waren als die Großen Koalitionen, traten im Bereich der Außen- und der Kulturpolitik immer wieder Differenzen auf. So scheiterte die Verabschiedung des längst überfälligen Reichsschulgesetzes am Gegensatz zwischen den konfessionsnahen Zentrum, BVP und DNVP und der liberalen DVP. An dieser Frage zerbrach das vierte Kabinett Marx'. Es wurde noch einmal von einer Großen Koalition unter Hermann Müller (SPD) abgelöst. Diesem folgten ab März 1930 Präsidialkabinette, die zunächst bürgerlich, bald rechtsradikal dominiert wurden.
Literatur
BÜTTNER, Ursula, Weimar. Die überforderte Republik. 1918-1933, in: BENZ, Wolfgang (Hg.), Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 18: 20. Jahrhundert (1918-2000), Stuttgart 102010, S. 171-767, hier 375-378, 389-391, 402, 556-595.
WOLF, Hubert, Papst und Teufel. Die Archive des Vatikan und das Dritte Reich, München 22009, S. 76-85.
Empfohlene Zitierweise
Bürgerliche Regierungen auf Reichsebene, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Schlagwort Nr. 385, URL: www.pacelli-edition.de/Schlagwort/385. Letzter Zugriff am: 29.03.2024.
Online seit 14.05.2013, letzte Änderung am 14.04.2014.
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