Dokument-Nr. 11453

L., W.: Gewaltige Kundgebung des Lutherringes, in: Der Reichsbote, Nr. 52 , 02. März 1927
Berlin, 2. März.
Es ist die größte evangelische Kundgebung seit 1914: nicht nur Saal, Empore und Gänge des Kriegervereinshauses sind bis auf den letzten Platz gefüllt, sogar auf den Treppen und in den Vorräumen drängen sich die Lutherdeutschen, die öffentlich bekennen wollen, was wir dem heutigen "Reichsboten" an die Spitze stellten; wir treten auf die Zinnen und werden D. Martin Luthers Deutschland vor Rom bewahren! -
Das trutzige "Ein feste Burg ist unser Gott" hallt mächtig durch den Raum. Dann spricht
Hofprediger D. Doehring:
Teure Glaubensgenossen! An Sie und nur an Sie wende ich mich, denn eine Stunde der Not und
Sorge ums Evangelium und ums Vaterland
hat uns zusammengerufen. Es ist uns ernst um die Bibel. Es ist uns ernst um die deutsche Nation: Von der Seite der Bibel her müssen wir unsere Aufgaben anfassen, wie es D. M. Luther tat! Wer mit der Bibel in der Oeffentlichkeit wirken will, der hat mit Schwierigkeiten zu rechnen! Wir bauen aber in diesem Kampfe nicht auf eigene Weisheit, sondern auf Gottes Wort.
Der Anspruch des Papstes als Stellvertreter Christi
ist nicht im Urchristentum legitimiert. Der Papst ist eben ein politischer Faktor, und zwar ein außenpolitischer Faktor für uns, denn religiöse Beziehungen haben wir nicht zum Papste: er will
eine politische Größe
sein. Bei dem Konkordat handelt es sich nicht um etwas Kirchliches oder Kirchenrechtliches, sondern um etwas Politisches, nämlich um einen
völkerrechtlichen Vertrag
den der Papst mit Deutschland oder Preußen schließen will.
Der Papst verlangt von dem überwiegend evangelischen Deutschland die Anerkennung seiner kirchlichen Stellung. Wenn es sich um katholische Belange handelte, warum wird dann der Versuch gemacht, auf völkerrechtlicher Basis einen Vertrag zu schließen. So gewiß wir mit unseren katholischen Brüdern in Frieden zusammenleben wollen, so gewiß fordern wir von den deutschen katholischen Mitbürgern, dieses durch nichts gerechtfertigte Konkordat als einseitige Bevorzugung eines zumal geringeren Bevölkerungsteils abzulehnen.
Die deutsche Entwicklung
würde auf unabsehbare Zeit durch das Konkordat einfach festgelegt.
Oeffentlich weiß man noch nichts von einem Land- oder Reichskonkordat. Wir haben dem Völkerbund gegenüber schon sowieso eine schwere Stellung. Das römische Konkordat belastet sie noch mehr.
Wir verlangen Gleichberechtigung!
Bei Abschluss des Konkordats kommmt aber noch die finanzielle Frage hinzu! Das Konkordat wird ferner für die katholische Schule genügend sorgen. Damit erwächst den Evangelischen eine neue große Schwierigkeit beim Reichsschulgesetz: wer will denn heute sagen, zu welcher "Mehrheit" sich nach Konkordatsabschluß das Zentrum hält.
Die Einmischung einer außenpolitischen Macht
in innerdeutsche Verhältnisse kann nicht geduldet werden: wir verlieren ein Stück nach dem anderen an Staatshoheit. Ich erwähne nur das Eherecht. Die offiziösen Blätter des Papstes treten schon jetzt bei Schaffung des italienischen Zivilrechtes scharf für ein gesetzliches Uebergewicht der römischen Kirche gegenüber dem Staate ein.
Wenn uns ähnliche Forderungen zugemutet würden, so können wir heute schon sagen, daß wir rundweg ablehnen müssen. In diesem Punkte kann man nicht energisch genug sein.
Unsere Parlamente
haben die Gefahr des Konkordates noch längst nicht erkannt. Schon jetzt warnen wir davor, daß unter keinen Umständen die Konkordatsfrage als Kuhhandelsobjekt behandelt werden darf. Will der Papst den konfessionellen Frieden in Deutschland und in Preußen wirklich ernstlich, dann sollen die deutschen Bischöfe angewiesen werden, bei den Landesregierungen sich ihre Belange sicherstellen zu lassen. Es ist das ja vor drei Jahren in Württemberg geschehen! Was wir unter allen Umständen in Deutschland haben wollen, das bringen wir auf die Formel:
In Deutschland gilt nicht römisches, sondern deutsches Recht!
Wir sehen in dem Konkordat einen Angriff gegen die Staats- und Reichshoheit. Darum müssen wir Evangelischen viel mehr zusammenhalten. Und nun wende ich mich an euch, ihr Männer:
Glauben heißt nicht ein Brett vor dem Kopf tragen, Glauben heißt ein heißes Herz und helle Augen haben!
Tun sie nicht so, als ob Sie sich schämen müßten, wenn Sie zur Bibel greifen: Sie tragen ja alle ein Stückchen Vaterland im Herzen! Und Ihnen, teure
Frauen und Mütter,
ist die Zukunft Deutschlands anvertraut. Lernen Sie wieder Stille über Ihren Kindern und mit Ihnen die Hände falten.
Darauf ergreift
Pfarrer Maßler von der St.-Johannis-Kirche Moabit
das Wort zu folgenden Ausführungen: In dem Namen Lutherring lebt ein heißes Wollen, neue Sehnsucht nach Einheit und Geschlossenheit. Ein Mann hat vor Ihnen gesprochen, der als Dozent der Universität das Gebiet genau kennt. Wir sind in politischer Sklaverei (Versailles), moralischer (freiwillige Kriegsschuldanerkennung in Genf und Locarno), jetzt droht
die geistige und religiöse Knechtschaft
im Konkordat. Zurzeit wagt man es, Taufen und Trauungen (Mischehen[)], die von evangelischen Geistlichen vollzogen sind, römischerseits zu wiederholen! Dieser römische Geist soll nun noch ausgeprägter auftreten, nachdem wir schon unter östlichen und slawischen Einflüssen gerade genug zu leiden haben.
Wir sind in dem kommenden Kampfe allein auf uns gestellt: auch die Standesherren und Fürsten halfen einst D. Martin Luther nicht. Aber wie Luther und Bismarck fürchten wir uns darum nicht, sondern bekennen freudig: Hie gut deutsch und hie gut protestantisch allerwege!
Darauf ergriff
Pfarrer Peter von der Segenskirche
das Wort. Er führte u. a. aus:
Der Lutherring ist der Welt nun nichts Neues mehr. So wie der Frühling ins Land zieht und auf die Berge steigt, so dringt er ins Land vor. Ja, wir sprechen es gläubig:
Er ist der Frühling in der deutschen evangelischen Christenheit und Kirche.
Wehe, wenn es in einer Kirche Herbst wird, wenn die lebendige Urkraft aus den Stämmen der Bäume weicht. Frühling ist bewegte Durchdringung mit Urkraft. Es lassen sich aber lebendige Urkräfte nur solange binden und halten, bis ihre Stunde kommt, da sie den Schoß der Erde sprengen. Stürme begleiten diesen Vorgang. Aber Gewitterstürme sind die Mütter der lieblichen Maiblumen. Wir wollen nicht die Laterne nehmen und der Welt hinter ihre Kulissen leuchten. Aber das eine lasse sich ein jeder evangelische deutsche Christ zur Stunde gesagt sein:
Kläret selbst euer Herz auf über das, was geschah und geschehen mußte.
Genug, jetzt glauben wir daran, nachdem die Kräfte frei sind, daß der Frühling kommen kann. Und diesen Frühling darf jeder deutsche evangelische Christ miterleben. Keiner ist ausgeschlossen, nur eins muss er tun: Er muß sich ganz unter die Urkraft stellen, aus der einst unsere Kirche, die Kirche der Reformation herausgeboren wurde. Diese Urkraft ist der Glaube des Reformators - aber der unverkürzte und urwüchsige Glaube, nicht eine fatale und zweifelhafte Weiterbildung dieses Glaubens. Darum: Zurück zu Luther! Und zwar zu seinem Herzen!
Der Lutherring will das Herz Luthers dem deutschen Volke erschließen.
Dieses Herz ist eine Fundgrube lebendiger Werte, nach denen wir hungern. Nichts ist, was dem Herzen Luthers aus seiner reformatorischen Vollmacht fremdgeblieben wäre. - Auch Staat, Wirtschaft, Handel, Kunst und Wissen nicht. Aber weiß das evangelische Volk, was sein Reformator zu den Gebieten des Lebens sagt? Wer liest seine Schriften persönlich? Wer kennt sie? Hat man das deutsche Volk mit Schriften des Reformators unmittelbar bekanntgemacht? Wer weiß von Luthers Schriften, daß sie laut Reichsacht verbrannt werden mußten. Das war Roms Befehl. Aber alle haben diesen Befehl mit vollstreckt, die bis heute
Luthers Schriften
nicht gelesen haben. Ist es ein Wunder, daß es keinen starken evangelischen Willen in der Oeffentlichkeit gibt? Uns evangelischen Christen fehlte ja einfach die Fähigkeit, uns im öffentlichen Leben grundreformatorisch zu entscheiden, weil wir das Herz des Reformators nicht kennen. Hier will
der Lutherring den helfenden Hebel ansetzen.
Wir wissen, daß in dem Herzen Luthers letzten Endes nur eine einzige treibende und wirkende Kraft lag, das war der "Glaube". Aber nicht ein Glaube schlechthin, nicht ein Nachjagen nach einem selbstgesteckten Ideal des Lebens. Luther hat sich keinen Glauben und keinen Gott "erdacht". Luther hat weiter nichts getan, als daß er
mit dem in der Bibel offenbaren Gott,
dem Gott des Zornes und dem Gott der Liebe, den alleinmöglichen und schuldigen Ernst machte. Dieser Glaube durchkreuzt das Elend unserer Tage. Er besagt: "Gott ist alles, der Mensch ist nichts", das Elend unserer Tage besagt: "Der Mensch ist alles, Gott ist nichts". Wir wenden das Elend solange nicht, bis wir
auf Luthers Boden treten
und wieder "allein aus dem Glauben leben". Wo es nur "nach dem Menschen" geht, da sterben die Führer aus, da ist das Feld der Schwätzer, Drohnen und Feiglinge. Da wird Rücksichtnahme zur Schwäche, Schwäche zur Schuld und Schuld zum Untergang. Da beugt sich einer vor dem anderen und alle zusammen vor dem Mammon. Wo aber
Luthers Bibelglaube
im Schwange ist, da werden Schwache zu Helden heiliger Taten. Wir hungern nach solchen Helden, nach solchen "vor Gott allein Verantwortlichen". Denn der Glaube eines Menschen ist sein Leben. Und wie der Glaube ist, so schlägt das Gewissen. Darum wollen wir fragen:
"Was glaubte Luther, wie glaubte Luther?"
Das furchtbarste Kennzeichen der Gegenwart ist die Verwüstung des Gewissens. Das war schon einmal so, als das Sprüchlein galt: "Sobald das Geld im Kasten klingt usw." Heute ist es genau so. Aber Martin Luthers im Glauben an den Gott der Bibel gebundenes Gewissen machte einst diesem Sprüchlein den Garaus. Darum ist sein Glaube Frühlingsurkraft der Kirche.
Schließt den Ring um ihn!
Niemand zu Leide, dem Volke zu Liebe! Es muß das Gelöbnis jedes evangelischen Deutschen werden: Ich will helfen, tun und beten, daß das Herz Martin Luthers sich auftue in seiner ganzen Kraft - ungebrochen und unbeengt. Darum noch einmal:
Schließt den Ring um Luther,
damit es Frühling werde in Volk und Kirche.
Hofprediger D. Doehring
sprach darauf ein kurzes, packendes Schlußwort: Martin Luther und seine alte treue Bibel hat noch immer eine ungeheure Werbekraft.
Und wer sich für die Bibel zu schade dünkt, der gehe und lasse sich bei uns nicht mehr sehen!
Wir können nur Leute mit Bibeln im Lutherring gebrauchen. Wir sind kein Verein, kein Konkurrenzunternehmen. Wir wünschen im Gegenteil, daß jeder in seinem Verein bleibt und dort den rechten Luthergeist pflegt.
Der "Reichsbote"
hat in freundlicher Weise sich bereit erklärt, heute und auch in Zukunft alles dasjenige zu bringen, was für unsere Bewegung von Interesse ist. - Wir falten die Hände und beugen die Herzen: nur keine Demonstrationsversammlungen! - und schließen nach unserem Gebet mit dem Verse des Lutherliedes: "Und wenn die Welt voll Teufel wär!"
Wir erwähnen noch, daß sich die ganze riesige öffentliche Versammlung still erhob und betete, was für Berlin in einem jedermann zugänglichen Saale in der heutigen Zeit etwas Einzigartiges sein dürfte. - Die Reden, namentlich die Hofpredigers D. Doehrings, waren wiederholt von stürmischem Beifall begleitet, der sich bei einigen Stellen zum Orkan steigerte. Ohne irgendwelchen trüben Zwischenfall, in musterhafter Zucht und Ordnung schloß diese erste machtvolle öffentliche Volkskundgebung des Lutherringes. Neuanmeldungen und Lutherpfennige wuchsen weiter sehr erheblich an.
W. L.
152r_1, oben in der mittleren Spalte Abbildung Martin Luthers.
Empfohlene Zitierweise
L., W., Gewaltige Kundgebung des Lutherringesin: Der Reichsbote, Nr. 52 vom 02. März 1927, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 11453, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/11453. Letzter Zugriff am: 27.04.2024.
Online seit 25.02.2019, letzte Änderung am 28.10.2019.