Dokument-Nr. 13651

[Mitglied des Verbandes katholischer Arbeitervereine]: Betrogene Arbeiter, vor dem 16. September 1923

Abschrift
Es sind fast 20 Jahre her, dass allerwärts intensive Werbetätigkeit für Bildung katholischer Arbeitervereine einsetzte. Die Kirche rief ihre Kinder auf zur Mitarbeit bei Lösung [sic] der sozialen Frage und die ihr in Treue und Liebe anhängenden Arbeiter kamen zahlreich. Die gutgesinnten Arbeiter glaubten, ein gutes Werk zu tun, wenn sie dem Ruf des Papstes, dem Ruf der Kirche Folge leisteten, wenn sie sich auf katholischer Grundlage organisierten. Nicht nur die Päpste forderten auf hierzu, sondern auch die preussischen Bischöfe in ihrer Gesamtheit, geschlossen und feierlich am Grabe des hl. Bonifatius in Fulda. Doch kaum erstarkte die katholische Organisation, als sich auch schon deren Gegner meldeten und dem katholischen Arbeiter klar machten, dass die geistlichen Oberhirten über die Art der Organisation geteilter Meinung seien. Allein Tausende von katholischen Arbeitern liessen sich nicht irre machen und hielten sich an die offiziellen Kundgebungen kirchlicher Obrigkeiten.
Mit der Treue und Festigkeit dieser Arbeiter wuchs aber auch die Wut ihrer Gegner. Man wollte unter keinen Umständen dem katholischen Arbeiter gestatten, an der Lösung der Arbeiterfrage von seinem religiösen Standpunkt aus und im Sinne der päpstlichen Kundgebungen zu arbeiten.
Es kam der Krieg. Tausende katholischer Arbeiter wurden zu den Waffen gerufen und konnten den Geisterkampf um ihre Ueberzeugung und um ihre katholischen Grundsätze nicht weiterführen. Die Daheimgebliebenen haben diese Gelegenheit aber gründlich ausgenützt, um dem katholischen Arbeiter seine Organisation auszureden. Es wurden ganze Ortsvereine von Verbande losgerissen und jede organische Verbindung der noch bestehenden Vereine gelockert. Und dazu wird jede Mitwirkung zur Wiederherstellung der notwendigen Ordnung im Verbande ausser Acht gelassen. Mächtige und einflussreiche Kreise des katholischen Volkes sind eben dabei, diesem durch sie selbst geschwächten katholischen Verbande den Todesstoss zu versetzen.
Und was haben wir nun davon?
1.) Um die Früchte von zwei Jahrzehnten rastloser, opferreicher Arbeit sind wir betrogen.
2.) Die katholisch-sozialen Grundsätze, die uns früher als allein heil- und hilfebringend gepriesen wurden, erscheinen heute unzweckmässig, veraltet, unmodern.
3.) Die Vorteile aus den langjährig gepflogenen Kasseneinrichtungen des katholischen Verbandes werden aufs schwerste bedroht. Und wenn es wahr ist, dass die geistlichen Behörden ihre sozialpolitische Auffassung zu Ungunsten des katholischen Verbandes geändert haben, dann hat man die katholischen Arbeiter eben zwei Jahrzehnte lang als Versuchskaninchen missbraucht und wir haben allen Grund, diesen Stellen gegenüber mit unserem Vertrauen zurückhaltend zu werden. Können kirchliche Stellen, die sich uneins sind in der Auffassung über Behandlung der Arbeiterfrage, nicht in zehn Jahren schon wieder oder noch früher dem katholischen Arbeiter eine neue Form der Organisation aufzwingen wollen? Es hat den Anschein, als ob gewisse geistliche Kreise die Absicht hätten, die Geschlossenheit der katholischen Arbeiterschaft mit Fleiss zu verhindern. Was geistliche Kreise bezüglich der Arbeiterfrage früher angebetet haben, verbrennen sie jetzt und was sie früher verbrannten, beten sie heute an. Und wer dabei zum Narren gehalten wird, das ist - der betrogene katholische Arbeiter. Betrogen, weil er früher einmal glaubte, dass die Lehren der katholischen Kirche und die Weisungen der Päpste das Wohl der Menschheit auch schon auf Erden begründe.
Und weil geistliche Herren inzwischen anderer Meinung geworden sind, lassen sie den Arbeiter mit seinen katholischen Grundsätzen sitzen.
Kreise aber, welche uns katholisch betrogen haben, können uns auch christlich betrügen.
Diese Denkschrift ist eine Anlage zu Dokument Nr. 13017.
Empfohlene Zitierweise
[Mitglied des Verbandes katholischer Arbeitervereine], Betrogene Arbeiter vom vor dem 16. September 1923, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 13651, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/13651. Letzter Zugriff am: 29.04.2024.
Online seit 23.07.2014.