Dokument-Nr. 488
Geiß, Alfons an Keppler, Paul Wilhelm von
Stuttgart, 11. Dezember 1917

Hochwürdigster Herr Bischof!
Gnädigster Herr!
Der ehrerbietigst unterzeichnete Seelsorger der Kriegsgefangenen in Stuttgart erlaubt sich hiermit der Aufforderung dazu folgend, folgende Mitteilungen über die Seelsorge im Kriegsgefangenenlager Stuttgart II (Berg) zu machen.
Seit 24. September 1914 ist der Unterzeichnete vom hochw. bischöfl. Ordinaritat Rottenburg beauftragt u. durch Militärvertrag verpflichtet zur Seelsorge in diesem Lager. Es steht dort für den katholischen Gottesdienst ein sehr geräumiger Saal zur Verfügung, der nur letzter Zeit hin u. wieder während einzelner Stunden oder auch einmal eines ganzen Tages unter der Woche anderen Zwecken dienen musste, infolge Abmangels genügend großer Räume bei stets steigender Belegung des Lagers.
In dieser Kapelle findet jeden Sonn- und Feiertag kath. Gottesdienst statt: Hl. Messe mit Gesang u. Harmoniumbegleitung, mehrstimmigem Gesang, früher mit Orchesterbegleitung, an höheren Festen Hochamt, mit regelmäßiger französischer Ansprache.
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In der ganzen Zeit seit Sept. 1914 bis Dez. 1917 ist nur an 6 Sonntagen dieser Gottesdienst ausgefallen, allerdings alle im Jahre 1917.
1) Am 15. April 1917 (Dom. in Albis) war der Unterzeichnete einer Einladung des dortigen kath. Garnisonspfarramtes folgend, im Kriegsgefangenenlager Münzingen zur Abnahme der Osterbeichte u. Spendung der Osterkommunion.
2) Am folgenden Sonntag den 22. April war der Unterzeichnete von der Kommandantur des Lagers Stuttgart zum ersten mal seit Beginn zur Erholung beurlaubt.
3) Am 3. Juni 1917 (Dom. Trin.) war der Unterzeichnete, der damals vorübergehend militärisch eingezogen war, zur Vereidigung kommandiert, die sich nicht umgehen ließ.
4) Am 10. Juni 1917 (Dom. II. p. Pent.) mußte die Kapelle infolge großer Umbauten im Lager auf Befehl der Kommandantur belegt werden. Mit deren Einverständnis fiel der Gottesdienst aus.
5) Am 28. Oktober 1917 (Dom. XXII. p. Pent.) fand im Lager II. eine unvermutete Visitation statt, die nur am Sonntag gehalten werden konnte, weil da die meisten Gefangenen anwesend sind. Der Gottesdienst mußte aus diesem Grund ausfallen.
6) Auf Wunsch eines auswärtigen Arbeitskommandos u. auf Anregung der Kommandantur des Lagers I. hat sich der Unterzeichnete vertragrechtlich verpflichtet, künftig einmal monatlich an einem Sonntag für 4 Arbeitskommandos auswärts Gottesdienst zu halten, zum 1. Mal am 2. Dez. 1917 (Dom. I. adv.). Das Hochw. Bischöfl. Ordinariat wurde militärischerseits davon verständigt. Eine Einsprache ist bisher nicht erfolgt.
Abgesehen von diesen Sonntagen ist regelmäßig Gottesdienst im Lager II. Leider allerdings ist die Beteiligung der Gefangenen im Verhältnis zur Zahl u. an deutschen Verhältnissen gemessen, schle[cht]. Weitaus die Mehrzahl der Franzosen u. Belgier treibt sich rauchend und schmatzend während des Gottesdienstes auf dem Hof herum. Nur so lässt es sich erklären, daß manche den Geistlichen nicht zu Gesicht bekommen, weil sie eben nicht wollen.
Für die Protestanten wird im Lager II ebenfalls Gottesdienst gehalten, aber nur etwa alle 9 Wochen u. nicht in der kath. Kapelle, sondern in einem kleinen Zimmer der Kommandanturräum[e]. Der prot. Pastor ist der Mehrzahl der französ. u. belg. Gefangenen wahrscheinlich überhaupt unbekannt, da er nie irgendwelche
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Beziehungen mit ihnen hat außer des eigentlichen Gottesdienstes, der von den wenigen prot. Franzosen u. Belgiern besucht wird.
Sämtliche Anfragen z.B. über Vermißte u.s.w., die z.T. in großer Anzahl "an den Lagergeistlichen" einlaufen, werden darum stets von der Kommandantur dem Unterzeichneten gegeben, nie dem prot. Lagergeistlichen.
Ebenso ist den französ. u. belg. Gefangenen jeden Sonntag (mit Ausnahme der schon genannten) Gelegenheit zum Empfang der Hl. Sakramente gegeben. Jeden Samstag Abend bzw. Vorabend vor Feiertag ist der kath. Geistliche im Lager anwesend, um den von der Arbeit zurückkehrenden Gefangenen Gelegenheit zur Hl. Beicht [sic] zu geben. Bei der Hl. Messe am Sonntag wird stets die Hl. Kommunion ausgeteilt, zu der sich den Sommer 1917 über sonntäglich durchschnittlich 20-25 einfanden. Von Dom. Resurrect 1917 bis Dom. II. adv. 1917 wurden im Lager II. etwa 870 Hl. Kommunionen ausgeteilt.
An Ostern 1915 betrug die Zahl der Osterkommunionen 17 %, in den anderen württbg. Lagern: Hohenasberg 11 %, Gmünd 10 %, Münsingen, wo damals 2 französ. Geistliche wirkten 10 %, Ulm 11 %. An Ostern 1916 war die Zahl im Lager II auf 13 %, 1917 auf 12 % herabgesunken. In Münsingen, wo der Unterzeichnete die Osterbeicht [sic] abnahm, waren es 1917 nur 5 %.
Jeden Samstag Abend und Sonntag Vormittag steht der kath. Lagergeistliche zur persönlichen Aussprache für jeden Gefangenen zur Verfügung. Es würde zu weit führen, auf die tausenderlei Bitten u. Anfragen, die dabei vorgebracht werden, einzugehen. Für verschiedene hundert Mark wurden dabei allein Gebetbücher, Rosenkränze, Medaillen u.a. unentgeltlich ausgeteilt.
Außer der eigentlichen Lagerbibliothek steht den Gefangenen in der Kapelle eine reichhaltige kath. Bibliothek zur Verfügung. Es sind dort neben unterhaltender Literatur insbesondere hunderte von theologischen Werken (Moral, Dogmatik, Kirchengeschichte etc.) wie auch der Profanwissenschaften, die insbesondere den jungen Theologen und sonstigen Studierenden zu gute kommen.
Lange Zeit bestand im Lager II ein kath. Studienzirkel, in dem regelmäßig Vorträge aller Art gehalten wurden. Es wurde täglich gemeinsames Morgengebet u. Abendgebet gehalten, dazu eine Art Exerzitien als Vorbereitung auf Weihnachten 1915 u. 1916 ebenso in der Karwoche 1916.
Der Studienzirkel mußte allerdings dieses Jahr aufgelöst werden, da viele der Leute zur Arbeit kamen und andererseits
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die Kommandantur es verlangte, weil offenbar Mißbrauch getrieben wurde, indem Themate [sic] behandelt wurden, die mit Theologie u. Wissenschaft nicht mehr viel zu tun hatten. Indem aber steht die Kapelle den ganzen Tag von früh 5h bis abends 9h offen zu Gebet u. Studium.
Am 4. Februar 1917 hielt der Unterzeichnete im Lager II. einen Vortrag mit 86 Lichtbildern über Oberammergau. Trotzdem an diesem Sonntag Mittag gar kein Hindernis vorhanden war u. der Zutritt natürlich frei war, war die Beteiligung gering. Auf Befragen erklärten die Gefangenen ihr Fernbleiben mit Kartenspiel u. Rauchen. Der Lagergeistliche glaubte deshalb künftig von solchen Veranstaltungen absehen zu dürfen.
Im November 1917 wurde einem belgischen Gefangenen das kirchliche Begräbnis verweigert, weil er sich als Freidenker bezeichnete und während seiner Krankheit den Empfang der Hl. Sterbesakramente auf das entschiedenste verweigerte.
Der Unterzeichnete erlaubt sich diese Tatsache dem Vorwurf gegenüber zu stellen, daß im Lager II für die religiöse Versorgung nichts geschehe. Das Erreichbare wurde versucht, wo vieles Wünschenswerte leider infolge großer Teilnahmslosigkeit vieler französ. u. belgischer Gefangenen nicht erreicht werden kann.
In tiefster Ehrfurcht verharrt Euerer
Bischöflichen Gnaden gehorsamster Diener
Geiß Alfons
Kriegsgefang.-Seelsorger
Stuttgart
Marienhospital
Empfohlene Zitierweise
Geiß, Alfons an Keppler, Paul Wilhelm von vom 11. Dezember 1917, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 488, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/488. Letzter Zugriff am: 06.12.2024.
Online seit 24.03.2010.