Deutsche Kriegsverfassung 1914-1918

Am 31. Juli 1914 verhängte Kaiser Wilhelm II. den Kriegszustand über das Deutsche Reich. Die Militärbefehlshaber erhielten dadurch das Recht der Aufhebung der Grundrechte, was nicht nur weitreichende Eingriffe in die Freiheit der Person, der Wohnung oder der Meinungs-, Vereins- und Versammlungsfreiheit, sondern auch die Einberufung von außerordentlichen Kriegsgerichten ermöglichte. Neben der freiwilligen Selbstzensur wurden mehrere Zensurbehörden geschaffen, um die Presse zu kontrollieren.
Durch die "Burgfriedenspolitik", das Einstellen des innenpolitischen Kampfes für die Zeit des Krieges, wurde die SPD im August 1914 in die deutsche Politik mit eingebunden. Sie stimmte im Reichstag der Gewährung von Kriegskrediten zu und unterstützte verschiedene Ermächtigungsgesetze, durch welche der Reichstag als legislative dem Bundesrat als exekutiver Gewalt weitgehende Gesetzesvollmachten zusprach. Dahinter stand die staatsrechtliche Überzeugung, dass die Exekutive das Reich in Zeiten des Kriegsfall oder des inneren Notstandes durch Notverordnungen regieren können müsse. Das Ermächtigungsgesetz vom 4. August 1914 war ein bedeutender verfassungsrechtlicher Schritt mit Blick auf die weitere Entwicklung der Ermächtigungsgesetze vor allem zu Beginn und am Ende der Weimarer Republik.
Während des Ersten Weltkriegs gab es somit ein Nebeneinander zweier Spielarten einer verfassungsrechtlich gestützten kommissarischen Diktatur: eine Militärdiktatur und eine Zivildiktatur.
Das Vorhaben der Reichsleitung, die Arbeit des Reichstags durch die Ermächtigungsgesetze stillzulegen, scheiterte bereits im Dezember 1914, als der Reichstag erstmals nach Kriegsausbruch zusammen trat. Allerdings kam es durch die Politik der "Neuorientierung" unter Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg zur Annäherung der konservativen und bürgerlichen Schichten an die Sozialdemokratie und die Freien Gewerkschaften, denen eine politische Gleichberechtigung in Aussicht gestellt wurde. Die noch bestehenden Kulturkampfgesetze wie das Jesuitengesetz wurden in diesem Kontext aufgehoben. Die "Politik der Diagonale" stieß im Juli 1917 mit der Absetzung Bethmann Hollwegs an ihre Grenzen. Die Reichstagsparteien akzeptierten die politischen Rahmenbedingungen und die kriegsbedingten Entwicklungen mit dem nochmals gesteigerten Einfluss des Militärs auf die Politik nicht mehr fraglos und setzten sich für eine Parlamentarisierung des Deutschen Reichs ein.
Literatur
HUBER, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 5: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914-1919, Stuttgart u. a. 1978, S. 39-115.
Empfohlene Zitierweise
Deutsche Kriegsverfassung 1914-1918, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Schlagwort Nr. 4040, URL: www.pacelli-edition.de/Schlagwort/4040. Letzter Zugriff am: 29.03.2024.
Online seit 02.03.2011, letzte Änderung am 25.02.2019.
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